Gesellschaft & Wissen

Die Prothese, die denkt

Aus ff 05 vom Donnerstag, den 02. Februar 2017

Hubert Egger mit Handprothese
Die Prothesen von Hubert Egger ­könnten vielen Menschen das Leben ­erleichtern. Damit sie billiger werden, verschenkt er seine Erfindung. © Archiv Hubert Egger
 

Der Südtiroler Hubert Egger hat Prothesen entwickelt, die „denken“ oder „fühlen“ können. Wären sie nicht so teuer, würden sie für viele Menschen neue Selbstständigkeit bedeuten. Damit sich das ändert, macht Egger seine Forschungen frei zugänglich.

Mit 14, nach der Mittelschule, will Hubert Egger Elektriker werden. Er besucht die Lehranstalt für Industrie und Handwerk in Bruneck. Der ältere Bruder bleibt auf dem Oberrutzner-Hof in St. Andrä, oberhalb von Brixen, der jüngere Bruder erlernt einen ordentlichen Beruf, die sechs Schwestern heiraten. Das war der Plan.
Doch Hubert Egger, 1963 geboren, war hartnäckiger, als es der Plan vorsah. Er ist heute Professor an der Fachhochschule Oberösterreich in Linz, der größten Fachhochschule in Österreich. Als Elektriker hat er nie gearbeitet, aber er legt Leitungen, die Menschen das Leben erleichtern. Er verbindet das menschliche Gehirn mit einer Prothese (Karbonfaser, Kabel, Prozessor, mechanische Gelenke). Die Gedanken lenken die tote Materie. Die „bionische Prothese“ ist der Ersatz für einen menschlichen Fuß oder Arm.
Egger ist ein gefragter Mann, eloquent und medial präsent. Kräftig, kurze graue Haare, Schnauzbart, Jeans, blaues Hemd, schwarzes Sakko, energiegeladenes Auftreten. Stets liegt ein breites Lächeln über seinem Gesicht. So, dass man sich fast wundert, wie einer dauernd lachen kann. Zum Gespräch hat er eine Armprothese mitgebracht, die sich von Gedanken steuern lässt.
Hubert Egger ist der Erfinder der gedankengesteuerten Armprothese und der fühlenden Fußprothese. Die ­Armprothese lässt sich gemäß jahrelang eingeübter ­Bewegungsmuster manövrieren, mit den elektrischen Impulsen, die vom Gehirn in die Nervenbahnen strömen. Dann „denkt“ die Prothese. Wenn der Strom umgekehrt verläuft, die Fußprothese über Sensoren an der Sohle die Impulse aufnimmt und diese ins menschliche Gehirn strömen, „fühlt“ die ­Prothese. Der Mensch weiß dann wieder, wie Gehen sich anfühlt – warm, kalt, weich oder hart, Boden. Die fühlende Fußprothese ist jetzt schon im Technischen Museum in Wien ausgestellt. Darunter steht der Name von Hubert Egger.
Sein Werdegang ist schnell erzählt, er ist im Wesentlichen von beruflichem Ehrgeiz bestimmt – Egger hat weder Frau noch Kinder, er ist Single. Nach der Lehre Matura an der Gewerbeoberschule in Bozen. „Ich war kein guter Schüler“, sagt er, „ich war ein wenig außenseiterisch.“ Begeistern kann er sich für technische ­Fächer. Ab 1984 Studium der Elektrotechnik an der Technischen Universität (TU) in Wien, danach Studium der Medizin – Technik und Medizin vereinen sich danach zu „Medizintechnik“.
Im Jahr 2000 wechselt Egger in die Forschungsabteilung von Otto Bock, dem Weltmarktführer in Medizintechnik, aber auch Zuliefervertrieb für die Automobilindustrie. 2012 wechselt er an die Fachhochschule Oberösterreich in Linz, der größten in Österreich.
Er hat drei Wohnsitze: Wien, Linz und Südtirol – die Wochenenden verbringt er regelmäßig auf dem heimatlichen Hof, seit Kurzem ist er auch Mitarbeiter der Privatklinik „Brixsana“ in Brixen. 60 Stunden in der Woche arbeite er, sagt er, aber eigentlich arbeitet er fast immer. Die einzige Ausnahme: Gleitschirmfliegen.
Nach dem Technikstudium setzt Egger einen Schnitt. Er arbeitet als Pflegehelfer im Spital der Barmherzigen Schwestern in Wien. Er sieht, wie sich Menschen schwertun, die einen Arm oder ein Bein verloren haben, wie sie verzweifelt um ein Stück Unabhängigkeit ringen. Und es nur schwer gelingt. Denn eine ­Prothese,
damals noch aus Holz oder eine einfache mechanische Konstruktion mit Lederschaft, ist in den Neunzigerjahren nicht mehr als eine Stütze oder ein Greifarm. Dabei ist es die Zeit, als mit dem „Commodore 64“ der erste massentaugliche Computer auf den Markt kommt, die ersten Mobilfunknetze eingerichtet werden, es gibt Herzschrittmacher und Hörgeräte. „Doch im Prothesenbau“, sagt ­Egger, „war der Fortschritt gering.“
Im Krankenhaus arbeitet er mit versehrten Menschen. Sie erzählen ihm von Schmerzen im Arm oder im Bein, das es nicht mehr gibt. Phantomschmerzen, die oft nur mit Morphium gelindert werden können. Hubert Egger fragt sich: Wie kann etwas wehtun, was es nicht mehr gibt? Doch Gehirn und Schaltkreise funktionieren, als wäre das Glied noch vorhanden, das Gehirn sendet Signale aus und bekommt keine Antwort. Also dreht es durch. Es sind die Jahre, in denen er beginnt, sich mit Philosophie und Sprache auseinanderzusetzen. Denn wer eine gedankengesteuerte Prothese bauen will, muss sich fragen, wie das Gehirn funktioniert und was Gedanken überhaupt sind und wie sie gespeichert werden.
Während des Gesprächs schnallt sich Hubert Egger zwei Sensoren an seinen Arm. Er findet die Gamasche dafür nicht, also tut es auch ein Gummiband. Er greift damit die Informationen ab, die elektrischen Impulse, die seine Handbewegungen steuern. Diese Informationen werden auf einem Chip gespeichert, der in die Prothese eingesetzt wird. Sie bewegt sich gemäß den gespeicherten Informationen. Hand auf, Hand zu, drehen. Noch kostet diese Armprothese 100.000 Euro.
Eggers Liebe zu Prothesen begann eigentlich, als er in die Privatindustrie ging, zu Otto Bock in Wien. Es ist ein großes Unternehmen, das um die 13.000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt beschäftigt und 2015 einen Umsatz von gut 1,9 Milliarden Euro auswies, davon gut 850 in Bereich „Health Care“ – Prothesen, Bandagen, Rollstühle. Bei Bock entwickelt Egger die gedankengesteuerte Armprothese in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Verteidigungsministerium. Sie ist für kriegsversehrte Soldaten gedacht. Das Erste, was Egger tut, ist, eine Fernsteuerung für Prothesen zu entwickeln, wie bei einem Fernseher oder einem Garagentor. Davor mussten Prothesenträger drei Schalter bedienen, um die Prothese mechanisch zu bedienen. Kompliziert.

Es war im Jahr 2005, als Christian Kandlbauer aus der Steiermark auf einen Starkstrommast stieg, in den Stromkreis geriet und sich beide Arme verbrannte. Sie mussten in der Folge amputiert werden. 17 Jahre alt war Kandlbauer. Mit ihm und für ihn entwickelte Hubert Egger die gedankengesteuerte Armprothese. Dafür wurden die Nervenbahnen, die ursprünglich Arme und Hände steuerten, präpariert und mit den Brustmuskeln verbunden. Die Impulse, die das Gehirn aussendet, werden von Sensoren aufgenommen, ausgewertet und an die Prothese weitergeleitet. Es funktionierte. Freilich, die Prothese musste erst lernen, mit den Impulsen umzugehen, so wie auch der Patient lernen musste, stabile Impulse auszusenden – das Gehirn entwickelte wieder seine eigenen Bewegungsmuster. Denn der Körper wehrt sich gegen eine Prothese, ähnlich wie bei der Transplantation eines Organs. Kandlbauer konnte in der Folge sogar Auto fahren, doch er starb 2010 bei einem schweren Autounfall.
Eine gedankengesteuerte oder eine fühlende Prothese zu entwickeln, ist ein komplexes und teures Unternehmen: Es braucht dafür Techniker, Hirnforscher, Chirurgen, Psychologen, ­Maschinenbauer. Und viel Geld. An die 30 Millionen Euro kostete die Entwicklung der gedankengesteuerten Armprothese, noch gibt es erst ein paar 100 davon. Sie gibt den Menschen ihre Selbstständigkeit zurück, beim Einkaufen, Kochen oder beim Gang auf die Toilette.
Hubert Egger sagt: „Bionische Arm- und Beinprothesen müssen für alle zugänglich sein.“ Deshalb hat er 2012 noch einmal einen Schnitt in seinem Leben gemacht, als er von der Privatwirtschaft an die Fachhochschule wechselte. Und er verzichtet auf viel Geld.
Auf einem Video sieht man, wie Hubert Egger an der fühlenden ­Beinprothese arbeitet. Druck auf den ersten Sensor: „Kleiner Zeh“, sagt der Patient. Druck auf den zweiten Sensor: „Großer Zeh.“ Druck auf den dritten: „Ferse“. Sechs Sensoren an der Fußsohle der Prothese setzen die Impulse an die Nervenbahnen ab, die dann von sensiblen Hautpartien im Knie ins Gehirn weiterführen und es über Temperatur oder Bodenbeschaffenheit informieren. Das bedarf der Vorbereitung: In einem aufwändigen Verfahren müssen die Spezialisten dafür die erhaltenen Nervenbahnen präparieren.
Valentin Rangger heißt der Mann, der die erste fühlende Beinprothese erprobte – seit 2015 ist der Prototyp fertig, wieder war die mediale Aufmerksamkeit groß, wieder stand Egger vor den Kameras, als habe er nie etwas anderes getan. Rangger hatte sein Bein ab dem Knie infolge einer Thrombose verloren, die Phantomschmerzen könnte er nur mit hohen Gaben von Morphium bekämpfen. Jetzt ist er wieder so gut wie schmerzfrei, die Signale laufen nicht mehr ins Leere.
Rangger kann wieder klettern, Rad fahren oder problemlos Stiegen steigen. Egger weiß, dass es nicht einfach ist, mit einer Prothese umzugehen, manchmal ist es nicht ein technisches, sondern ein psychologisches Problem. Noch muss ein Prothesenträger das Bein oder den Arm aus Kunststoff am Abend aufladen. Aber auch daran arbeitet Egger: Er erforscht, wie man zum Beispiel die Batterien mit Körperwärme wieder aufladen kann.
„Was kann ich tun, dass sich mehr Menschen diese Technik leisten können“, fragte sich Hubert Egger, als er an die Fachhochschule kam. Die Antwort: Er stellt jetzt die Ergebnisse seiner Forschungen der Wirtschaft kostenlos zur Verfügung. Die hohen Preise für Prothesen seien sehr wohl auch der intensiven Forschung geschuldet, aber auch „Ausdruck einer Monopolsituation“: „Sie könnten sehr viel billiger sein und mehr Menschen zur Verfügung stehen.“
Er hätte sich die fühlende Prothese auch patentieren lassen und damit viel Geld verdienen können. Doch er tat es nicht. „Wissenschaftler“, sagt er, „haben auch eine ethische Verantwortung.“
Und das Geld? „Geld? Geld habe ich auch so genug.“ 

weitere Bilder

  • Beinprothese Hubert Egger mit Studenten Hubert Egger mit Armprothese Hubert Egger und Valentin Rangger Fußprothese

Hubert Egger, 53, ist in St. Andrä bei Brixen auf einem Bergbauernhof aufgewachsen. Heute noch verbringt er hier fast jedes Wochenende. Egger hat nach der Matura an der Gewerbeoberschule in Bozen Elektrotechnik und Medizin studiert. Er arbeitet danach folgerichtig im Bereich der Medizintechnik, zuerst bei der Firma Otto Bock in Wien und seit 2012 als Professor für Prothetik an der Fachhochschule Oberösterreich in Linz. Er ist der Erfinder der gedankengesteuerten Armprothese (2007) und der
fühlenden Beinprothese (2010). Er hat sie oder Teile davon zum Gespräch mit ff mitgebracht. Er tat nach der Entwicklung der Beinprothese etwas Ungewöhnliches:
Er stellte seine Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung.

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