Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat den schönsten Lagrein im ganzen Land?
Gesellschaft & Wissen
Auf der Wiese wird es still
Aus ff 15 vom Donnerstag, den 12. April 2018
Wissenschaftler liefern seit Jahren Beweise: Schmetterlinge, Bienen und Käfer verschwinden. Hauptursache ist die intensive Landwirtschaft. Doch davon will man im Land zwischen Brenner und Salurn nichts wissen.
Ich erinnere mich an drei Schwestern aus der Nachbarschaft, in der ich aufgewachsen bin. Jede von ihnen hatte einen Kescher, ein sackartiges Netz. Wenn draußen der Frühling erwachte, man das Treiben und Fliegen der Tiere beobachten konnte, standen sie am Wegesrand und warteten auf Hummeln. Eine hielt Ausschau, die zweite den Kescher, die dritte einen Becher mit Salz. Sobald die erste eine Hummel um die Ecke fliegen sah, fing die zweite sie ein. Die dritte streute mit einem Teelöffel Salz über das Insekt und ließ sie lachend „nach Salzburg“ fliegen. Kinder können grausam sein. Hat sich bis heute nicht geändert.
Aber etwas anderes hat sich verändert. Mit wem man auch spricht, mit den Großeltern, den Eltern, den Nachbarn. Mit Arbeitskollegen, Freunden, Fremden. Das Gefühl, früher habe es mehr Hummeln, Bienen, Schmetterlinge und Käfer gegeben, lässt viele nicht los. Auch Autofahrer sagen, dass wesentlich weniger Krabbler bei einer Fahrt auf die Windschutzscheibe klatschten als „früher“ und sich die Natur um einen herum ändert. Liegt das am Älterwerden und daran, den Blick nicht mehr dafür zu haben? Oder ist etwas dran, an diesem Gefühl, dass Insekten verschwinden, ohne dass wir es radikal merken? Stimmt das wirklich?
Deutschland, im Jahr 2016. In der Nähe von Krefeld im Bundesland Nordrhein-Westfalen machen ehrenamtliche Insektenkundler aus Deutschland, den Niederlanden und England eine Beobachtung. Das nicht erst seit diesem Zeitpunkt, sondern seit mehr als zwei Jahrzehnten. Eine Langzeitstudie, die 27 Jahre andauern soll. Um die Anzahl von Insekten zu zählen, unabhängig von der Artenvielfalt, stellen sie in Naturschutzgebieten Fallen auf. Insgesamt an 63 Standorten im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, an manchen Standorten findet das Monitoring sechs Jahre statt. Aus weißen Tüchern bauen die Forscher ein zeltartiges Konstrukt, in das Insekten fliegen und dann in einer mit Alkohol gefüllten Fangflasche landen. Im Labor werden die Insekten aus dem Fang getrocknet und gewogen; das Gewicht dokumentiert.
Das Ergebnis: 1989 fangen die Forscher noch 1,2 Kilo Insekten pro Falle. 2013 sind es 0,29 Kilo. Ein Rückgang von 76 Prozent der Fluginsekten-Biomasse, wie die Auswertung zeigt. Im Sommer bis zu 82 Prozent. Und das in Naturschutzgebieten. Die Verluste betreffen die meisten Arten, von Schmetterlingen, Bienen und Wespen bis zu Motten und anderen flugfähigen Arten.
Mit der Veröffentlichung der Studie im vergangenen Herbst kommen zwar Kritiken an der Methode. Doch durch die Medien geht bereits eine Welle der Aufregung und Besorgnis. Der Spiegel, die Zeit, regionale Tageszeitungen von Kiel bis München liefern Schlagzeile um Schlagzeile: „Ein ökologisches Armageddon“ – „Dramatisches Insektensterben“ – „Landwirtschaft zwischen Skandal und Landlust“. Auch im bayerischen Regensburg schlagen Forscher und Entomologen Alarm. Dort werden Schmetterlinge bereits seit 1766 gezählt. Von 117 Arten zwischen 1840 und 1849 sinkt die Zahl auf 71 zwischen 2010 und 2013. Auch ihre Artenzahl ist rückgängig. Insektensterben ist in aller Munde. Doch hat die Wissenschaft recht? Sterben Insekten aus, und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit?
Der Bachguterhof in Dorf Tirol bei Meran. Die Sonne scheint, Gänse und Enten laufen frei herum, hier und da hört man die Vögel zwitschern. Die Kirchenglocke im Dorf schlägt zwölf. Ein paar Minuten später fährt ein Jeep vor. Ein Mann in dreckigen, grauen Gummistiefeln, einem langen Hemd und einer Arbeitshose steigt aus. „Entschuldigung“, sagt er. „Wir haben hier keine Uhr auf dem Feld – ist es schon zwölf?“ Es ist Franz Laimer, Besitzer des Bachguterhofs, Biobauer, Berufsimker. Auf seinen Feldern wachsen Salate, Tomaten und Fenchel, Kräuter, Kartoffeln und Pfirsiche. Die Liste ist lang, alles biologisch, gespritzt wird hier schon lange nicht mehr. Oben in den Höhen, im Wald, hat Laimer seine Bienenvölker stehen. An ihnen, sagt er, lasse sich ein Punkt klar erkennen: das Insektensterben in Südtirol.
Dass es den Bienen nicht gut geht, ist ein Thema, das schon seit Langem nicht nur in den Medien, sondern auch in Politik und Gesellschaft diskutiert wird. „Es ist ein ganz eigenes Kapitel“, sagt Franz Laimer. Seine Frau bringt selbstgemachten Holunderblütensaft, irgendwo quakt eine Ente.
Bienen – sie sind das Paradebeispiel für das Insektensterben. Seit Jahren weisen wissenschaftliche Studien darauf hin, dass die Bestände immer rückläufiger sind. In manchen Teilen Chinas gibt es heute schon gar keine Bienen mehr, sodass Wanderarbeiter Obstbäume vor Ort mühsam per Hand bestäuben müssen. Ein Szenario, das sich der Imker nicht vorstellen möchte. Doch auch bei seinen Völkern beobachtet Laimer ein Verhalten, das ihn oft schon hat verzweifeln lassen: „Viele sind zwar nicht tot, aber sie sind auch nicht richtig lebendig.“ Mühsam sei es, die Tiere über die Runden zu bekommen. 150 Völker hatte Laimer mal, jetzt sind es nur noch 40.
Schon als Sechsjähriger hielt er seine ersten Bienenvölker. Damals war er mit seinem Vater oft im Spronser Tal unterwegs, wo es nur so gewimmelt habe von Bienen, von Schmetterlingen und Käfern. „Mit solchen Bildern bin ich aufgewachsen. Und heute sieht die Landschaft um uns herum ganz anders aus.“
Auf politischer Ebene kam der erste Antrag zum Bienensterben 2014 von Brigitte Foppa, Landtagsabgeordnete der Grünen. Immer wieder wandten sich Imker mit zwei Problemen an sie: Die eingewanderte Varroamilbe aus Asien vernichte die Bienen-Brut. Und: Der Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft vergifte die Bienen. Oft reiche eine geringe Dosis aus, sagt Franz Laimer, um die Nervenzellen der Tiere anzugreifen, sodass sie orientierungslos und die Signalübertragungen gestört seien. Krämpfe, Flugunfähigkeit, Tod – wie viele Bienen hat er schon verloren.
Also stellt Brigitte Foppa im Landtag eine Idee vor. Sie will bienenfreundliche Gemeinden fördern und dafür einen Preis ausschreiben – Anspornen statt verbieten. Was sie erntet, ist Gelächter. „Das hat damals niemand ernst genommen“, sagt sie. Gewundert hat sie sich, in einem Land, für das die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit eine so bedeutende Rolle spielt. 85 Prozent der Lebensmittel sind abhängig von der Bestäubung.
Erst als weltweit vom Bienensterben gesprochen wird, nehmen sich auch andere Politiker im Land des Themas an: Auszahlungen von Landschaftsprämien, mit denen die extensive Bewirtschaftung von Magerwiesen und artenreichen Bergwiesen gefördert wird, Renaturierungsarbeiten als Ausgleichsmaßnahme oder auch die Förderung einer dreijährigen Studie des Versuchszentrums Laimburg zum gesundheitlichen Zustand der Bienenvölker in Südtirol. Das Ergebnis: Es gibt eine erhöhte Sterblichkeitsrate durch den Einsatz von bienengefährlichen Pflanzenschutzmitteln. Zahlen können die Wissenschaftler um Manfred Wolf nicht liefern. Mit Fragen nach dem großen Sterben tappt man immer noch im Dunkeln. Vergleichbare, umfassende Studien wie die der Krefelder gibt es hierzulande nicht.
Braucht es aber auch nicht, sagen Petra Kranebitter und Thomas Wilhalm vom Naturmuseum Bozen. Denn: „Auch bei uns ist Insektensterben ein Fakt.“ Vorsichtig öffnet die Konservatorin für Zoologie einen Kasten mit etwa 30 sorgfältig präparierten Apollo-Schmetterlingen. Eine stark geschützte und vom Aussterben bedrohte Art. „Das Einzige, was es bei uns gibt, ist eine Rote Liste“, sagt Kranebitter. 1994 aufgesetzt, liefert sie Trends der vom Aussterben bedrohten Insektenarten. Dabei ist es geblieben, es folgten keine weiteren Listen. Die Gründe: kein Geld, keine Ressourcen, kein Interesse seitens der Politik, sagt Kranebitter.
Also behelfen sich Wissenschaftler mit kleineren Studien, Beobachtungen, Zählungen und Schätzungen, die im Naturmuseum als Dokumentationsarchiv veröffentlicht werden. Sie alle liefern zwar keine wissenschaftlichen Grundlagen für ein großflächiges Insektensterben im Land. „Aber“, sagt Thomas Wilhalm, Konservator für Botanik, „in bestimmten Gebieten belegen die Beweise, dass verschiedene Arten sowie auch die Anzahl einzelner Individuen in der Insektenwelt stark abgenommen haben, teilweise bereits verschwunden sind.“
Eine dieser Studien, neben der Laimburger Apistox-Studie die umfangreichste zum Insektensterben, wurde 2009 von Gerhard Tarmann veröffentlicht, Gründer und langjähriger Leiter des Forschungszentrums für Schmetterlinge des Alpenraumes am Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck. Seit mehr als 30 Jahren beobachtet er die Schmetterlingspopulation im Vinschgau. 2007 untersuchte der Tiroler dort gemeinsam mit einem Team 23 Trockenrasenflächen. „Die Widderchen waren eine ganz typische Art für dieses Gebiet“, sagt er. „Und plötzlich ist die Anzahl schlagartig stark zurückgegangen.“ In gewissen Gebieten, wie am Sonnenberg, sei sie sogar komplett verschwunden. Neun Jahre sind seit der Veröffentlichung vergangen – politisch wurde die Studie nie aufgegriffen.
Vor drei Jahren hat Gerhard Tarmann seine Studie zu Schmetterlingen dann auf Mals ausgeweitet. Ebenfalls Schmetterlinge. Ebenfalls Beobachtungen, Schätzungen, Kartierungen. Es ist die einzige Möglichkeit, Artenvielfalt und Anzahl der Tiere bestimmen zu können. Genauso wie am Sonnenberg sieht der Forscher eine Hauptursache für das Insektensterben, eine Bestätigung, wie er sagt, die alle im Grunde sowieso schon wissen – zumindest unter Wissenschaftlern: „Der Insektenrückgang entsteht durch Lebensraumzerstörung. Und durch die intensive Landwirtschaft.“
Aus dem intensiven Obstbau in der Talsohle stiegen die Pestizide mit der Thermik, einer Art Aufwind, vom Tal in höhere Lagen. Die Häutung der Raupen werde dadurch unterbrochen, die Schmetterlinge bleiben aus. „Wir waren tagelang unterwegs und haben oft nur drei Arten gesehen“, sagt Tarmann. Unter Schmetterlingsliebhabern war der Sonnenberg ein Geheimtipp.
Monokultur, verarmte Wiesenflächen, Verbauung, großflächiges Ausbringen von Pestiziden. Für Gerhard Tarmann besteht kein Zweifel, dass die intensive und industrielle Landwirtschaft einen beachtlichen Teil beiträgt. Ein Insektizid steht ganz vorn auf der Liste der Verdächtigen: Neonicotinoide. Bereits eine geringe Dosierung reiche, um Insekten zu töten. Das Insektizid soll Saatgut vor Befall schützen. Allerdings bleibt es nicht im Saatgut – es gelangt von der Wurzel der Pflanze bis in die Blüte, in der die Tiere die Gifte über die Pollen aufnehmen.
Bereits im Dezember 2013 wurde der Einsatz von Neonicotinoiden EU-weit beschränkt. Weder auf Rapssaat noch beim Anbau von Kirschen, Äpfeln oder Gurken sollten sie angewendet werden. 2016 veröffentlichte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) eine erste überarbeitete Version der Empfehlung. Auf dieser Basis schlug die EU-Kommission vor knapp einem Jahr ein komplettes Freiland-Verbot vor. Bei diesem Vorschlag ist es bisher geblieben.
In einer Landschaft, die komplett aufgeräumt ist, die durch Pestizide vergiftet wird – dort könne nichts mehr entstehen, sagt der Schmetterlingsforscher Gerhard Tarmann. Er verstehe, dass die industrielle Landwirtschaft eine wichtige Einnahmequelle sei. „Vom Apfelbau leben so viele Leute, es ist so ein gutes Geschäft, wie will man dagegen ankommen?“, sagt er. Natürlich gäbe es neben der Landwirtschaft noch andere Gründe, die zum Insektensterben beitragen: Bodenversiegelung, Verkehr, Intensivnutzung an allen Ecken und Enden, Verlust der Diversität in der Landschaft. „Auf zig Kilometern im Vinschgau gibt es oft keinen einzigen Strauch. Das sind Gebiete, die sind einfach tot“, sagt Tarmann. „Südtirol ist bestimmt eines der schlimmsten Gebiete im gesamten Alpenraum, wenn es ums Insektensterben geht.“
Wir treffen Kurt Kußtatscher, 59, freiberuflicher Biologe aus Jenesien, landschaftsökologischer Berater für Landwirte. Landwirtschaftliche Nutzflächen machten mehr als 90 Prozent in Südtirol aus, sagt er. „Dass dadurch negative Auswirkungen entstehen, versteht sich von selbst.“ Ob es Landverbrauch, Pestizide oder Abgase seien – „in der Summe sind wir in so einem kleinstrukturierten Gebiet wie Südtirol sehr eingeschränkt.“
Wenn die Insekten sterben – oder die Äpfel,
dann müssen wir uns umstellen und uns etwas einfallen lassen, sagt Kußtatscher. Eine neue Situation, für die niemand bisher gewappnet sei. „Es braucht eine Wissensstruktur und eine richtige Forschungsanstalt, die fachliches Wissen aufbaut und von der Politik zu Rate gezogen wird.“ Die Biolandwirtschaft will der Biologe zwar nicht als Heilmittel ansehen, da auch dort schädliche Stoffe eingesetzt werden. Auch will er die Biolandwirtschaft nicht gegen die konventionelle ausspielen. „Ich hätte gerne nur eine umweltverträglichere Landwirtschaft. Ob die Bio oder Konventionell heißt, ist mir egal.“
Doch wenn die Marktwirtschaft so weiter funktionieren solle wie bisher, sei eine naturverträgliche Lösung und Landwirtschaft nicht möglich. Dazu zählen für ihn auch die Konsumenten, die auf niedrige Preise fixiert sind. Und die Politik? Die drückt sich vor der Verantwortung und stellt Fragen, die innerhalb von fünf Jahren beantwortet werden können – in einem Wahlzyklus, damit nicht der Nachfolger die Lorbeeren erntet. Sagt Kußtatscher.
Absolute Panikmache, findet Arnold Schuler. Landesrat für Landwirtschaft. Von den Vorwürfen, die man sich gefallen lassen müsste, hat er genug. Vom Thema Insektensterben auch: „Davon kann wohl kaum die Rede sein“, sagt er. Klar habe die intensive Landwirtschaft Nachteile, aber wer für Europa produziert, wer einem Konsumenten immer volle Regale bieten wolle, der müsse eben produzieren. Das sei die Aufgabe. „Solange sich das Konsumverhalten nicht ändert, wir Kaffee aus Afrika und Tee aus Asien wollen, wird sich nichts ändern“, sagt er. „Man will auf nichts verzichten, aber eine traditionelle Landwirtschaft, wie sie vor 100 Jahren üblich war. Wie soll das gehen?“
Als praktizierender Bauer in Plaus versteht er die Panikmache ums Insektensterben nicht. Noch dazu, ohne stichfeste Beweise zu liefern. Die Landwirtschaft werde in ein falsches Licht gerückt. In seinen Plantagen sehe er die Artenvielfalt. Und auch sein Imker habe in all den Jahren, die er seine Bienen in Schulers Apfelplantagen stehen habe, nie Probleme gehabt.
Auch Klaus Marschall, Institutsleiter für Pflanzengesundheit an der Laimburg, tut sich schwer mit dem Begriff Insektensterben. Mit dem Thema befasst hat sich am Versuchszentrum bisher aber keiner. Insekten werden in Forschungen an der Laimburg als Schädlinge untersucht. Dass die Anzahl schwinde, könne man nicht stehenlassen, sagt Marschall. Es kämen immer wieder neue Arten hinzu. Besonders aus dem asiatischen Raum.
Er findet, das Thema – vor allem das Bienensterben – sei in der Gesellschaft und Politik angekommen. „Es gibt Analysen, ob es nach dem Ausbringen von Pestiziden zu Vergiftungserscheinungen kommt“, sagt er. „Und auch Lösungsansätze, denn während der Apfelblüte darf nichts ausgebracht werden.“ Dann wird es still am anderen Ende der Leitung, mit ruhiger Stimme sagt er: „Wenn Sie sehen könnten, wie es in dem Nussbaum vor meinem Fenster summt und fliegt, da tue ich mich schwer, von einem Insektensterben zu sprechen.“
Der Biologe Kurt Kußtatscher kann über solche Aussagen nur lachen. Über das Leugnen, über das Verharmlosen der Hauptursachen. „Ich möchte die Landwirte nicht als Prügelknaben sehen“, sagt er. „Aber sie sind die großen Flächennutzer, und wer das ist, hat auch Einfluss und Verantwortung.“ Im Grunde gehe es um die Auswirkungen auf das ganze Ökosystem.
Ortswechsel. Etschtal, das Biotop Fuchsmöser in Unterrain. Am Wegesrand steht Leo Unterholzner und sucht mit seinem Fernglas das Bild zum Gesang, den er hört. „Eine Mönchsgrasmücke“, sagt er und bedeutet mit erhobenem Zeigefinger, still zu sein. Für den 66-jährigen Biologen aus Lana sind die Natur, die Biodiversität, die Vögel seine große Leidenschaft. Bereits vor 40 Jahren hat er die Arbeitsgemeinschaft für Vogelkunde und Vogelschutz Südtirol gegründet. Seit Jahrzehnten ist der Hobbyfotograf regelmäßig im Gelände unterwegs. Zum Beobachten, Fotografieren und Kartieren. Sieht er einen Schmetterling, weiß er, dieser ist inzwischen eine Besonderheit. Die Artenliste der Insekten schwindet, darüber hat er keinen Zweifel. Und mit dem Schwinden der Insekten geht noch etwas verloren: die Nahrungsgrundlage für Vögel.
Kiebitz, Wachtel, Wachtelkönig, Rotkehlchen, Rebhuhn – sie sind die großen Verlierer im Land. Aufgrund des Nahrungsmangels haben sie keine Chance. „Es nützt einfach nichts, Abzugsgräben zu ziehen und Nistkästen in Obstplantagen aufzustellen, wenn die Nahrungsgrundlage für Vögel fehlt“, sagt Unterholzner. Die gesamte Etschtalsohle bis nach Mals sei bereits aus dem Gleichgewicht geraten – selbst in den Höhen ging die Artenvielfalt zurück.
„Wenn das so weitergeht“, sagt er und schaut in die Baumspitzen, „wird die Mönchsgrasmücke, die da so flott singt, irgendwann auch nicht mehr da sein. Und dann wird es still. Und wir werden seelisch darunter leiden.“ Denn mit jedem Käfer, der aus dem System fällt, ändere sich etwas im Kreislauf. Das Gleichgewicht kippt, Tiere verschwinden und irgendwann auch viele Nahrungsmittel.
„Wirtschaftswachstum und Biodiversität“, sagt er und wird ein einziges Mal im gesamten Gespräch etwas lauter, „das funktioniert einfach nicht zusammen.“ Wenn es den Apfel irgendwann nicht mehr gibt, dann fällt es auch dem letzten Stadtbewohner auf, sagt Unterholzner. „Aber wollen wir so lange warten?“
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Die Agrios-Richtlinien: In Südtirol ist die Arbeitsgruppe für den integrierten Obstbau (Agrios) seit der Gründung 1988 für die integrierte Produktion zuständig und setzt sich somit für eine nachhaltige und naturnahe Obstwirtschaft im Land ein – mit Richtlinien, an die sich die (freiwilligen) Teilnehmer des Programms halten sollen. Im Land sind fast alle Obstbauern, abgesehen von Biolandwirten, Teil des
Programms. Die Prinzipien des „integrierten“ Anbaus sind eine mildere Form der konventionellen Landwirtschaft: Es geht um die Schonung natürlicher Ressourcen, technische Empfehlungen und bedingtes Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln. Grob gesagt: So wenig Chemie wie möglich, so viel wie nötig.
Um die Biodiversität in intensiver Landwirtschaft zu fördern, empfiehlt Agrios, fünf Prozent der Anbauflächen als Ausgleichsflächen zu verwenden. Tiere könnten dadurch wieder Unterschlupf in Hecken, Sträuchern, Steinhaufen und Mauern finden. Kontrolliert wird das jedoch nicht – es bleibt bei einer Empfehlung. Jene Bauern, die ein Betriebsheft führen, werden kontrolliert, doch nur bei zehn Prozent nimmt Agrios tatsächlich Blatt- oder Bodenproben, die Strafen bei Verstößen fallen eher milde aus.
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