Gesellschaft & Wissen

Die Sache mit der Zeit

Aus ff 36 vom Donnerstag, den 06. September 2018

Uhr
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Bei einer Onlineumfrage der EU haben sich 84 Prozent der Teilnehmer für die Abschaffung der Zeitumstellung entschieden. Was dafür spricht und was dagegen.

Pro

Meine Oma hat ein paar Tage zuvor immer gesagt: Jetzt schenken sie uns wieder eine Stunde mehr Schlaf. Das hat ihr gefallen. Die eine Stunde mehr war immer schön. Nur auf die Frage, ob die Zeitumstellung eigentlich noch mehr Vorteile hat, bekam ich nie eine Antwort.
Bis Mitte August konnten Bürger in einer Onlinebefragung der EU ihre Meinung zur Zeitumstellung mitteilen. Es ging um das Thema, das seit Jahren für immer mehr Bewegung in der Gesellschaft sorgt: abschaffen oder nicht? 84 Prozent der Teilnehmer – der Großteil aus Deutschland – sprachen sich dafür aus, künftig nicht mehr die Uhren zu verstellen. Mit dem Thema hat die EU-Kommission einen Nerv getroffen.
Dabei wird ihnen klar sein: Die Argumente für die Abschaffung sind stark. Man könnte jetzt schimpfen und die Gegenseite niederdiskutieren. Aber bleiben wir in Sommerstimmung und sprechen einfach aus, was Fakt ist. Punkt 1: Wir sparen Strom. Denn durch die Nutzung des Tageslichts verzichten wir vermehrt auf künstliches Licht. Das zumindest war einer der Hauptgründe, warum man 1980 die Sommerzeit inmitten der Ölkrise einführte. Effiziente Energiegewinnung. Galt damals, kann auch heute nicht schaden. Na gut, wenn man es genau nimmt: In der Summe macht das mit dem Stromverbrauch nicht so viel aus. Aber klingt einleuchtend. Und dass die meisten­ Menschen ­aktiv sind, während es hell ist, ist ein Fakt und führt geradewegs zu Punkt 2: Sonnetanken. Nicht jeder hat flexible Zeiten, kann um 16 Uhr schon den Arbeitsplatz verlassen. Da ist es doch fantastisch, nach der Arbeit in der Sonne seinen Feier­abend zu genießen. Man muss schon ziemlich stinkstiefelig sein, wenn man selbst als härtester Befürworter der Zeitumstellung diesem Punkt nicht eins zu eins zustimmen kann. Oder?
Punkt 3, der wohl argumentativ mit am stärksten ziehen dürfte:­ die Gesundheit. Stunde vor, Stunde zurück. Hallo? Mal was von Biorhythmus gehört? Die Idee damals war ja ganz nett gemeint. Aber man muss auch lernen loszulassen. In diesem Fall die Winterzeit. Denn: Kinder können nicht schlafen und sind quengelig, Patienten durcheinander wegen der Tabletteneinnahme, Herbstdepressive und Helligkeitssensitive leiden, und der Rest befindet sich tagelang wie im Jetlag. Man könnte mal über Schmerzensgeld diskutieren, aber das ist ein anderes Thema. Außerdem sagen Studien, dass das Herzinfarktrisiko höher ist, Menschen mit Müdigkeit und Konzentrationsproblemen kämpfen. Sogar – und man soll ja alles ernst nehmen – von einer erhöhten Suizidgefahr wird gesprochen. Das können wir ja wohl kaum verantworten.
Im Übrigen haben’s Kühe auch nicht so mit der Zeitumstellung: Ein bis zwei Wochen brauchen sie, bis sie sich an die Umstellung und die neue Melkzeit gewöhnt haben. Selbst bei dem Thema haben die Landwirte es nicht leicht.
Punkt 4 könnte man fast zu Punkt 3 zählen, weil er aufs Nervenkonto geht: Wann wird jetzt die Uhr umgestellt? Wie spät ist es dann? Kann ich dann länger oder kürzer schlafen? Oh, super, keiner hat verschlafen! Immer die gleichen mühsamen Fragen und Generaldebatten, die man wirklich nicht mehr hören will. Oder ist das der versteckte europäische Zusammenhalt, und ich versteh’s nur nicht?
Kommen wir zum letzten Punkt, Punkt 5: Warum diskutieren wir noch? Denn vergangenen Freitagmorgen hat sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit folgenden Worten für die Abschaffung der Zeitumstellung ausgesprochen: „Millionen haben abgestimmt und sind der Auffassung, dass es so sein sollte, dass die Sommerzeit in Zukunft für alle Zeit gilt. So wird das auch kommen.“ Na also. Und für alle, die jetzt noch mürrischer sind als vorher, ihre Winterzeit mit in die Dunkelheit nehmen wollen: Lasst uns die Zeit nicht mit Wut und Streit verschwenden, lieber im Sinne der schönsten Jahreszeit zufrieden und aktiv sein. Und wenn alle Stricke reißen, schließen wir einfach einen Kompromiss und einigen uns auf eine halbe Stunde vor und zurück.

Dunja Smaoui

Contra

In der Redaktionssitzung wurde ich ausgelost, den Part der Gegner der derzeitigen Sommerzeitregelung zu übernehmen. Ausgerechnet ich, der ich diese Diskussion für Quatsch halte. Ausgerechnet ich, der ich die Sommerzeitgegner für eine sektenähnliche Gruppe von Esoterikern und EU-Allergikern halte. Andererseits: Diese Gruppe hat nun mal die Umfrage gewonnen – und wer Umfragen gewinnt, hat recht. So funktioniert das heute. Dass die Mehrheit der Europäer von der Umfrage erst erfahren hat, als es bereits zu spät war? Wurscht. Ebenso wurscht ist, dass sich niemand mehr auskennt. Wenn jetzt die Sommerzeitregelung abgeschafft wird, was haben wir dann: immer Sommer- oder immer Winterzeit? Wenn die EU, wie es jetzt scheint, die Sommerzeit zur ganzjährigen Normalzeit machen will, dann hätte sie in der Umfrage nicht nach „Abschaffung der Zeitumstellung“ fragen dürfen. Genau so lautete aber die Frage. Wird die Zeitumstellung abgeschafft, gibt es in Zukunft das ganze Jahr Winterzeit – es sei denn, die EU schafft nicht die in den 80er-Jahren eingeführte Zeitumstellung ab, sondern die Winterzeit. Aber egal. Ich will versuchen, mich sozusagen zum Anwalt der Antisommerzeitrevoluzzer aufzuschwingen. So gut das eben geht.
Sommerzeit ist – erstens – willkürlich. Sie wurde eingeführt, um irgendwelchen Bedürfnissen entgegenzukommen, Energiesparen zum Beispiel. Als das Öl knapp war, glaubte man, den Stromkonsum reduzieren zu können, wenn man im Sommer den Zeiger um eine Stunde nach vorne rückt. Inzwischen wissen wir, dass dies Wunschdenken war: Unser Energieverbrauch ist seither dermaßen gestiegen, dass die Zeitumstellung nur nullkommajosef darauf Einfluss haben kann. Also: weg damit.
Sommerzeit bringt – zweitens – unseren Biorhythmus durcheinander. Wenn ich an den 28. Oktober denke, wird mir jetzt schon übel: Da klingelt dann der Wecker eine Stunde später. Schlimm? Schlimm ist auf jeden Fall: Da weiß ich dann, dass der Winter vor der Tür steht.
Sommerzeit ist – drittens – blöd, weil es sie nur im Sommer gibt. Besser wäre es, die Sommerzeit auf das ganze Jahr auszudehnen. Dann müsste ich mich nicht umstellen – und am 28. Oktober müsste ich nicht meinen Biorhythmus umstellen. Jedenfalls wäre es dann im Januar bis 9 Uhr früh stockfinster: Soll sich besonders bei Langschläfern positiv auf die Psyche auswirken. Okay, vielleicht ist das mit der ganzjährigen Sommerzeit doch keine gute Idee. Wäre es besser, die Winterzeit auf das ganze Jahr auszudehnen? Viele Vorteile fallen mir dazu nicht ein – außer: Es wäre sicher aufregend, wenn es im Sommer bereits um 4 Uhr früh hell wird und der Gigger also mitten in der Nacht, die inzwischen keine mehr ist, mit seiner Performance ansetzt.
Sommerzeit ist – viertens – gefährlich. Ich habe gehört, dass die Umstellung zu Softwarepannen führen kann – zum Beispiel bei Drohnen. Die könnten sogar abstürzen. Schlimm. Schlimm?
Zeitumstellung ist – jedenfalls – kompliziert. Ich habe echt keine Ahnung, wie die Uhr in meinem Auto in der Nacht auf den 28. Oktober pünktlich um 3 Uhr kapiert, dass sie ... Ich staune immer wie ein Kind. Nicht zu reden von den Flugzeugen, die während eines Fluges, irgendwo im Grenzbereich zwischen Sommer- und Winterzeit, plötzlich ...
Eben: Weg mit der Zeitumstellung! Und egal, dass wir nicht wissen, was uns die Abschaffung der Umstellung bringen wird: den ewigen Sommer – oder den ewigen Winter? Hauptsache, Europa beweist mal, dass es „die wirklichen Sorgen der Menschen“ ernst nimmt.
Ja und dann ist es sicher spannend zu sehen, wie es weitergeht. Vielleicht gibt es Volksbefragungen in den einzelnen Staaten. Und vielleicht entscheiden dann die Deutschen anders als die Österreicher, und diese wieder anders als die Schweizer und wir Italiener. Europa könnte sich in einen wunderbaren kunterbunten Zeitfleckerlteppich verwandeln. Das wäre sicher lustig.

Norbert Dall’Ò

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