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Gesellschaft & Wissen
Vom kleinen Zystchen
Aus ff 50 vom Donnerstag, den 13. Dezember 2018
Karoline Irschara hat 100.000 radiologische Befunde der Uniklinik Innsbruck untersucht. Das Ergebnis ihrer Forschung: Frauen werden diskriminiert.
Als Karoline Irschara im Herbst 2016 vor ihrem Laptop sitzt, sich Abend für Abend durch medizinische Foren klickt, liest, wie im Gesundheitswesen über Schmerzen gesprochen wird, Bücher, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln, wälzt, und Freunde, Familie und Berge beim Wandern und Entspannen vertröstet, weiß sie nicht, dass sie zwei Jahre später in London ihre Ergebnisse präsentieren und am Ende 4.000 Euro Preisgeld mit nach Hause nehmen wird.
Fast ihr ganzes Leben lang hat sie Zweifel an sich selbst. Sie glaubt nicht, gut genug zu sein. Dass ihre Leistungen relevant sind. Unsicherheit machte sich breit, wenn sie Klausuren in der Schule schrieb. Sie schämte sich für Seminararbeiten in der Uni, weil sie dachte: Wen soll das bloß interessieren?
Karolina Irschara, 27, promoviert derzeit am Institut für Sprachen und Literatur der Uni Innsbruck. Für ihre Masterarbeit mit dem Titel „Von Zystchen und gut 3 cm“ hat sie zwei Preise erhalten. Das liegt zu einem Teil an dem glücklichen Zufall, an Betreuer zu geraten, die glaubten, sie passe perfekt zu diesem Thema. Zum anderen an ihrer Verbissenheit, ihrem Ehrgeiz und der Perfektion, die sie in die Arbeit gesteckt hat.
Für ihre Abschlussarbeit hat die gebürtige Bruneckerin 100.000 medizinische Befunde der radiologischen und neurologischen Abteilung der Uniklinik Innsbruck aus den Jahren 2006 bis 2016 untersucht. Sie wollte herausfinden, ob es sprachliche Unterschiede gibt, die aufzeigen, dass Frauen oder Männer benachteiligt sind. Das Ergebnis hat sie selbst erschreckt.
Der Anruf kam von Bernhard Glodny, Facharzt der Radiologie an der Uniklinik Innsbruck. Ihm sei etwas aufgefallen, sagte er zu Claudia Posch, Professorin am sprachwissenschaftlichen Institut. Schon lange kennen sie einander, er selbst interessiert sich sehr für Sprache. Bei den Arztbefunden, die ihren Patienten ausgestellt werden, vermute er eine Form der Diskriminierung über die Sprache. Claudia Posch wurde hellhörig, überlegte und wusste gleich, wer für ein Thema der Genderlinguistik brennen würde.
Früher war Feminismus eigentlich nie ein Thema für Karoline Irschara. Nicht zu Hause, nicht in der Schule. Im Gegenteil. Sie konnte dem überhaupt nichts abgewinnen, obwohl sie Ungleichheiten schon als Kind wahrnahm. Wenn die Mädchen nicht Fußball spielen durften. Wenn kaum Jungs am Tanz- oder Musikunterricht teilnahmen. Schräg fand sie das. Verstanden hat sie es nie.
Dass Irschara Ungleichheit als Benachteiligung erkannte, hat sich geändert, als sie nach Innsbruck zog und eine Pflichtvorlesung zu Gender-Studien besuchte. Gebannt saß sie im Vorlesungssaal mit 40 anderen und war fasziniert von radikalen Ansätzen, der Idee, dass Geschlecht eine Norm ist, die mit Machtverhältnissen verbunden ist, alternativen Filmen, in denen quere Identitäten im Mittelpunkt standen.
Die Ansätze lassen sie nicht mehr los. Und dann wieder der Zweifel: Warum ist mir die Erkenntnis nicht schon viel früher gekommen?
Als sie bei einem Kulturfestival in der Stadt Bands einlädt, die nur aus Frauen bestehen, springt der Funke über. Sie fühlt sich in der Gesellschaft unter Frauen nicht nur wohl, sondern empfindet eine Stärke, die von ihnen ausgeht, dass sie auch Teil von ihnen sein will. Teil der Feministinnen. Von da an sieht sie sich selbst als Feministin und gründet mit anderen das erste und einzige Roller Derby Team in Innsbruck. Dass sie den Feminismus mit ihrer anderen Leidenschaft, der Sprache, verbinden würde, war nur noch eine Frage der Zeit.
Aus Datenschutzgründen muss sie für ihre Abschlussarbeit zunächst einen Ethik-Antrag an die Kommission stellen, den sie gemeinsam mit Bernhard Glodny und ihrer Betreuerin Claudia Posch erarbeitet. Ein halbes Jahr zieht sich die Antwort hin, aber Karoline Irschara denkt nicht daran abzuwarten. Sie setzt sich an den Laptop und beginnt zu lesen. Sie durchforstet medizinische Seiten, Zeitungsartikel, Foren. Liest über Kommunikation in der Medizin, über Ansätze, Gespräche zwischen Ärzten und Patienten zu optimieren, über Wahrnehmungen, wie generell über Schmerzen gesprochen wird, und Studien, die aufzeigen, dass Beschwerden bei Frauen eher psychosomatisch, bei Männern organisch gedeutet werden.
Als sie ihre ersten Theorie-Kapitel schreibt, weiß sie immer noch nicht, ob ihr Antrag angenommen wird. Aber den Laptop zuklappen – das geht einfach nicht. Wie ist der Forschungsstand auf dem Gebiet überhaupt? Wie sieht der medizinische Fachwortschatz aus? Wie will sie in ihrer Arbeit vorgehen? Immer wieder kommen Anrufe von Freunden, die sie mit auf Partys, zu Stammtischsitzungen nehmen wollen. In der Familie stehen Treffen mit der Verwandtschaft an. Irschara sagt alles ab. Kurz bevor das halbe Jahr um ist, überkommen sie Ängste – Was ist, wenn der Antrag abgelehnt wird?
Dann die Gewissheit. Im Januar 2017 darf sie offiziell beginnen, festzustellen, ob Frauen in Arztbefunden der radiologischen Abteilung in Innsbruck benachteiligt werden. Sie entwirft digital einen Korpus, eine Maske, mit dem sie jeden einzelnen Befund auseinanderpflückt und nach Begriffen ordnet. Dabei geht sie nach einem Schema vor, zerstückelt den Text nach Wörtern. Adjektiven, Substantiven, Kardinalzahlen. Mit einer Frequenz- sowie einer Diskurs-Analyse untersucht sie, welche Wörter häufig vorkommen, ob sie geschlechtsspezifisch sind, ob die Zahlenangaben genau gemacht werden. Spannend findet sie die Aufgabe. Und noch spannender, was sie herausfindet: „Es gibt tatsächlich sprachliche Unterschiede, die man technisch herauslesen kann“, sagt sie bei einem Gespräch vergangene Woche. Ein Schlüsselbegriff sei das Wort Zystchen gewesen, das fast ausschließlich bei Frauen verwendet wurde – häufig in Kombination mit winzig oder klein. Eine Verniedlichung im medizinischen Befund? „Das geht nicht“, sagt Irschara. Auch bei der Untersuchung der Kardinalzahlen stellt sie fest: Wenn bei Männern beispielsweise ein Tumor festgestellt wurde, wird er laut Ergebnissen mit genauer Kommastelle angegeben. Bei Frauen wird die Zahl ersetzt durch zirka, etwa, gut drei Zentimeter. „Schaut man sich die Ergebnisse an, lässt sich nicht verleugnen, dass viele Patientinnen keine genauen Angaben ihrer Krankheiten bekommen“, sagt sie. „Aber auch Männer sind benachteiligt: Vielen wurde nämlich im Vergleich zu Frauen gar keine Vorsorgeuntersuchung empfohlen.“
Des Weiteren ließen sich im Rahmen der gegebenen Befundmenge auch allgemein schwierigere Zugänge für Frauen zu radiologischen Zweituntersuchungen erkennen. Karoline Irscharas Hypothese, dass sich die Berichte unterscheiden, je nachdem, wer behandelt wird, konnte bestätigt werden.
Im Januar 2018 macht sie einen Punkt und gibt die Arbeit in Druck. Erleichtert, freudig, ratlos, mit so viel freier Zeit umzugehen. Ob die Forschung repräsentativ ist, darüber macht sie sich schon länger immer wieder Gedanken. Rückendeckung und Ansporn kommen von ihrer Betreuerin und Bernhard Godny. So viele Befunde, so eine große Textmenge – die Arbeit gibt gewiss eine Tendenz vor. Zwar gibt eine wissenschaftliche Arbeit nur die Ergebnisse – ohne Wertung – an, die Gründe für Diskriminierungen kann sie sich trotzdem erklären. „Ich glaube, es ist eine implizite Form der Diskriminierung, die bei den Menschen so verinnerlicht ist, dass sie sie unbewusst machen“, sagt sie.
Damit sich etwas ändert, ihre Arbeit nicht wie viele andere im Archiv der Universität verstaubt, überlegt Irschara nach der Abgabe, wie sie mit dem Ergebnis weiterarbeiten kann. Neben dem zweiten Platz des Beirats für Chancengleichheit in Südtirol, dem Gender-Fem-Preis des Büros für Gleichstellung und Gender Studies der Universität Innsbruck, des eintägigen Workshops der British Association for Applied Linguistics in London, erhält sie eine Promotionsstelle an ihrem Institut.
Seit Mai arbeitet Karoline Irschara nun als Universitätsassistentin 20 Stunden in der Woche an ihrer Dissertation. Die Forschung ist auf vier Jahre ausgerichtet, die Anzahl von weiteren 100.000 Befunden wird sie leicht überbieten, sagt sie. Und sie hat nochmals einen Ethik-Antrag gestellt. Denn neben Befunden will sie zusätzlich Arztbriefe, die wesentlich detaillierter sind, hinzunehmen. Ihr Ziel ist es, noch mehr Beweise für Benachteiligungen zu liefern und eine Art Leitfaden für Mediziner zu entwickeln.
Sie sagt, thematisch fühlt es sich an, als sei sie angekommen. Und auch wenn die Zweifel an ihrer Forschung immer wieder aufflackern, glaubt sie fest daran, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema einen wesentlichen Teil zur gesellschaftlichen Wahrnehmung beiträgt, an Strukturen etwas verändern kann. Und warum? „Weil Sprache alles ist“, sagt sie.
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