Robert Holton ist einer der Letzten, die von der Vertreibung der Juden aus Meran im Jahr 1939 erzählen können. Unsere Autorin Sabine Mayr hat ihn in London getroffen.
Gesellschaft & Wissen
Das Spiel ist aus
Aus ff 12 vom Donnerstag, den 19. März 2020
Die Sportwelt hat lange gezögert, das Coronavirus ernst zu nehmen. Bis es nicht mehr anders ging. Chronik einer Reaktion in Zeitlupe.
Wie rasant sich Viren verbreiten, und wie schwer sich die einzelnen Staaten und Regionen tun, damit umzugehen, zeigt ein kurzer Blick zurück zur Biathlon-WM in Antholz.
Es ist Samstag, 22. Februar, italienweit gibt es offiziell lediglich 61 Infizierte. Im Südtirol-Home in Antholz Mittertal findet an diesem Tag eine Gala statt – mit Landeshauptmann Kompatscher, anderen Spitzenpolitikern, Sportlern, Unternehmern, Verbandsfunktionären, Vips.
Auch Ministerpräsident Antonio Conte hatte sich angemeldet, um bei dieser Biathlon-Sternstunde dabei zu sein und Weltmeisterin Dorothea Wierer hochleben zu lassen. Conte sagte dann doch seine Teilnahme ab – wegen irgendwelcher Streitigkeiten in der Regierung, nicht wegen des Virus.
Corona ist an jenem Abend im Südtirol-Home lediglich ein Randthema. Es gibt zwar erste Meldungen, dass die Zahl der Infizierten rapide steigen würde. Von Unruhe aber keine Rede. Warum denn auch?
Tags drauf, am Sonntag, 23. Februar, macht unter Journalisten die Nachricht die Runde, dass in Rom überlegt werde, sportliche Großveranstaltungen nur mehr ohne Publikum zu genehmigen – und zwar ab sofort. Dies würde bedeuten, dass die beiden Abschlussrennen in Antholz nicht mehr durchgeführt werden könnten.
Den WM-Höhepunkt abblasen? Allein bei dieser Idee schütteln alle – Politiker, Funktionäre und auch wir Journalisten – den Kopf. Man ist sich einig, dass eine solche Maßnahme keinen Sinn hat: Sollte eine Ansteckungsgefahr bestehen, dann wäre es jetzt ohnedies zu spät, zumal in Antholz Zigtausende Menschen schon seit zehn Tagen im engsten Kontakt miteinander stehen. Vor allem aber glaubt an diesem 23. Februar noch niemand, dass dieses Virus eine ernstzunehmende Gefahr werden könnte: „In wenigen Tagen spricht kein Mensch mehr davon.“ So der allgemeine Tenor.
Wenige Tage später, am 8. März, sieht die Sache bereits ganz anders aus: Italienweit sind 6.387 Personen an Covid-19 erkrankt, 366 haben die Seuche mit dem Leben bezahlt. Italien hat zu diesem Zeitpunkt bereits rigide Maßnahmen erlassen, um die Übertragung des Virus einzudämmen.
In Deutschland hingegen scheint man zu glauben, dass es sich weiterhin bloß um ein chinesisches und in der Folge italienisches Problem handle. Während in Südtirol sogar Messfeiern verboten sind, wird draußen, jenseits des Brenners, weiterhin Fußball gespielt. 75.000 Zuschauer verfolgen an diesem 8. März in der Münchner Allianz-Arena das Spiel der Bayern gegen Augsburg, 58.000 sitzen Schulter an Schulter im Berliner Olympiastadion, 54.000 feuern in Mönchengladbach die Heimmannschaft im Spiel gegen Dortmund an. Mönchengladbach ist gerade 30 Kilometer von Heinsberg entfernt. Dieser Bezirk gilt zu diesem Zeitpunkt aufgrund mehrerer Infizierter bereits als hochgradig Covid-19-gefährdet.
Viren kennen keine Staatsgrenzen. Das sollten wir spätestens seit der Spanischen Grippe wissen, die zwischen 1918 und 1920 über Europa, Russland und Asien hinwegfegte und rund 50 Millionen Menschen dahinraffte.
Viren schreien geradezu nach überstaatlichen Maßnahmen. Globale Phänomene erfordern globale Strategien – möchte man meinen. Stattdessen: China tat, was das dortige Regime für richtig hielt, Italien ist auf sich alleine gestellt, Tirol kocht sein eigenes Süppchen und lässt Tausende LKW-Fahrer tagelang auf der A-22, also im Notstandsgebiet Italien, festsitzen. Und in Deutschland erkennt man plötzlich, dass die Bundeskanzlerin, die mächtigste Frau der Welt, nicht einmal die Macht hat, im eigenen Land Fußballstadien, Diskos und Bordelle zu schließen.
Föderalismus in Zeiten von Covid-19: Der deutsche Bundesgesundheitsminister darf lediglich eine Empfehlung ausgeben („Angesichts der hohen Ansteckungs-gefahr wäre es besser, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern abzusagen“). Ob den Empfehlungen Folge geleistet wird, hängt von Landtagen, Kreisräten, Bürgermeistern ab. Jetzt haben alle Folge geleistet. Doch es gab Widerstand, die großen Fußballvereine hätten gerne weitergespielt, auch ohne Zuschauer.
Am Freitag, 13. März, als Italien mehr als 1.200 Tote vermeldete und Covid-19 sich in Deutschland rasant verbreitete, beschloss der Berliner Senat, dass jetzt auch in der deutschen Hauptstadt Bars, Clubs und Kneipen schließen müssen – „ab Dienstag, den 17. März“. Warum erst am Dienstag, fragte man Bürgermeister Michael Müller (SPD). Dieser antwortete tatsächlich: „Weil erst dann der Senat formal die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen kann.“
In den fünf Tagen, die der Berliner Bürokratenapparat benötigt, um eine überfällige Verordnung umzusetzen, erreicht Covid-19 Zigtausende Menschen: Allein an diesem 13. März infizieren sich in Deutschland 900 Personen.
In sämtlichen Ländern lässt sich dasselbe Verhaltensmuster beobachten: Solange man nicht selbst betroffen ist, wird das Virus verharmlost. Beispiel Ischgl: Noch Mitte vergangener Woche brüstete sich der Tiroler Skiort, dass bis in den Mai hinein auf den Pisten gewedelt werden könne und das traditionelle Abschlusskonzert – mit Eros Ramazotti – „selbstverständlich stattfinden wird“.
Selbstverständlich war einzig, dass die Nachricht wenige Stunden später korrigiert werden musste: Konzert abgesagt, Skigebiete geschlossen, Touristen nach Hause und in Quarantäne. Tirol ist das österreichische Bundesland mit der höchsten Anzahl an Infizierten: 250 waren es bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe. Tendenz steigend.
Die Schulen schließen? Macht nichts, dann gehen wir eben skifahren. Die Gasthäuser geschlossen? Na dann laden wir die Freunde halt zum Watterle in die eigene Stube. Es hat Tage gedauert, bis wir uns der Tragweite der Situation bewusst wurden. Der eine oder andere fand es cool, sich weiterhin mit Freunden und Freundinnen zu treffen. Dass sie damit – auch wenn pumperlgesund – zum idealen Sprungbrett für das Virus wurden, diese Binsenwahrheit wurde (zu) oft mit einem Schulterzucken abgetan: Ach geh, ist doch alles übertrieben.
Übertrieben? Wer sich in den Krankenhäusern umsieht, kommt zu einem anderen Schluss: Wie es aussieht, haben Italien und damit auch Südtirol zu spät dichtgemacht. Dieser Tage arbeiten Ärzte, Sanitäter, Pfleger, Sicherheitskräfte rund um die Uhr, um das Schlimmste zu verhindern: den Kollaps des Sanitätssystems. Um zu verhindern, dass es in Südtirol zu lombardischen Zuständen kommt.
Heute, Samstag ist der fünfte Tag, an dem ich das Haus hüte. Das Dorf ist ausgestorben, nur Supermarkt, Bäcker, Metzger und Apotheke haben noch offen. Auf der Pustertalerstraße verkehren den ganzen Tag über weniger Autos als üblicherweise in einer Stunde. Ursprünglich hoffte ich, etwas Zeit vor dem Fernseher abtöten zu können: Sportschauen bis zum Abwinken stand auf dem Programm.
Von wegen. Das Biathlonwochenende in Finnland war die allerletzte Großveranstaltung, die noch durchgeboxt wurde. Seit Samstag ist in sämtlichen Sportarten Pause. Serie A, Bundesliga, Champions League, NBL, NHL, ja sogar der Start der Formel-1-Saison in Australien wurde gecancelt. Alle, die nicht wussten, was eine Pandemie ist: Jetzt wissen sie es.
„Wenn in Italien sogar Fußballspiele abgesagt werden, muss es schon ziemlich heftig zugehen.“ Das sagte der deutsche Sportreporter Marcel Reif vor einer Woche im lockeren Talk auf Bild.de. Es klang wie ein Witz über die fußballvernarrten Italiener.
Inzwischen wissen es auch die Deutschen und Österreicher und Schweizer: Ja, es ist „heftig“ . Auch die EU weiß es – und zeigt ausgerechnet in dieser „größten Krise seit dem zweiten Weltkrieg“ (Sebastian Kurz), dass sie weder die Zuständigkeiten noch die Mittel hat, die Zügel in die Hand zu nehmen. Covid-19 führt uns vor Augen, dass es – wenn es um große und wichtige Dinge geht – eine europäische Regierung nicht gibt.
Am Samstag gab der Berliner Senat übrigens bekannt, dass Kneipen und Clubs sofort und nicht erst am Dienstag schließen. Covid-19 hat geschafft, was niemand bisher schaffte: der Bürokratie Beine machen.
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