Gesellschaft & Wissen

Virtueller Hörsaal

Aus ff 12 vom Donnerstag, den 19. März 2020

Online-Vorlesung
Volle Präsenz bei allen Vorlesungen: So wie Martina aus Bari, Verena aus Leifers, Anna aus Frankfurt, Greta aus Brixen sind Hunderte von Studierenden der Uni Bozen seit 5. März online unter­einander und mit den Dozenten ­verbunden (ganz rechts: Stephanie Risse). ­Prüfungen und Lehre werden trotz der ­Coronakrise gewährleistet. © Privat
 

Die Freie Universität Bozen setzt auf Online-Vorlesungen. Wie sich die drastischen ­Maßnahmen auf Studierende und Dozenten auswirken.

Dienstag, 3. März, 10 Uhr, Aula 1.22 im ersten Stock der bildungswissenschaftlichen Fakultät in Brixen, erste Stunde der Vorlesung „Institutionelle Kommunikation“ im Bachelor-Studiengang „Kommunikations- und Kulturwissenschaften“, kurz Koku. 19 Studierende des Abschlussjahres sind da, überwiegend junge Frauen, drei junge Männer, alle aus dem deutschen und italienischen Sprachraum. Auf den ersten Blick eine motivierte, bunte Gruppe. Erleichterung ist spürbar, auch bei mir, der Dozentin, denn die Universität ist nach einer einwöchigen Schließung wieder offen.

Institutionelle Kommunikation ist ein eher theorielastiges Fach, das ich immer praxisorientiert zu gestalten versuche. Geht es doch darum, anhand eines aktuellen Ereignisses zu analysieren, wie Institutionen miteinander kommunizieren, wie die Öffentlichkeit informiert wird und wie die Mitarbeiter. Und es geht in dem Kurs nicht zuletzt um die kulturell-sprachlichen Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden großen Kulturräumen, aus denen die Studierenden kommen: vom äußersten Süden der italienischen Halbinsel bis in den Norden Europas. Einheimische Studierende sind in diesen Kursen meist in der Minderheit. Viele erleben so ihre eigene vertraute Welt neu, durch die Fragen derjenigen, die von „draußen“ kommen und umgekehrt.

Am 3. März also ein praktischer Einstieg, wie immer mit einem aktuellen Beispiel. „Corona“ bietet sich an. Brisant, aber das Virus scheint noch weit weg, in den „roten Zonen“ in der Lombardei. Niemand von uns ahnt an jenem sonnigen Märztag, dass die Gruppe sich nur wenige Tage später aufgeteilt zwischen Bari im Süden und Rotterdam im Norden wiederfinden wird.

Eine Studentin fehlt bereits, Martina aus Bari: „Ich melde mich aus Apulien, 1.000 km von meiner Uni, meinen Freunden und meinem Leben weg“, wird sie uns eine Woche später erklären. „Als die ersten Fälle von Covid-19 bekannt wurden, bin ich sofort nach Hause gefahren und habe mich dort freiwillig selbst isoliert und das zwei Wochen, bevor ganz Italien abgeschottet wurde.“

Zu diesem Schritt hat die 21-Jährige weniger die Angst vor dem Virus als die Angst vor Diskriminierung bewogen. „Zum ersten Mal in der italienischen Geschichte hat der nördliche Teil der Halbinsel mehr Probleme als der südliche. So wurden die aus dem Norden kommenden Studenten und Arbeiter als coronainfizierte Gefahr dargestellt und zunächst freundlich, später dann aggressiv, aufgefordert, doch bitte gleich zu verschwinden.“

Doch der Reihe nach. Martina kann sich noch nicht in unsere Diskussion einschalten. Die Studierenden teilen sich am 4. März in vier Gruppen auf. Der Arbeitsauftrag lautet: Webseiten, Twitter und Presseberichte von Regierungen, Medien und Pharmaunternehmen zu sichten, um sie dann in Echtzeit in der Gruppe zu präsentieren, im Seminarraum 1.22 in Brixen.

Nur wenige Stunden danach, um 21:02 bekommt die Uni Bozen die Mitteilung, dass die Universitäten in ganz Italien für weitere zehn Tage geschlossen werden, mit der Bitte an die Lehrenden, mit dem Unterricht online zu gehen. Zwar waren wir alle schon sachte vorbereitet worden, die Rektorenkonferenz in Rom hatte den Unis eine entsprechende Software empfohlen. Doch so wirklich glauben mochten weder Studierende noch Dozierende, dass sie über Nacht vom Hörsaal in virtuelle Kommunikationsräume wechseln würden müssen.

In den kommenden Tagen wirbelte es die Koku-Gruppe durch- und auseinander: Südtirol war über Nacht, laut Einstufung des Robert-Koch-Instituts aus Berlin, von einer touristischen Hochburg mit deutsch-italienischem Flair zum infizierten „Risikogebiet“ geworden – zur Empörung von Wirtschaft und Gastwirten.

Während deutsche Urlauber überstürzt die Flucht ergriffen und die ersten drastischeren Maßnahmen der italienischen Regierung auch in Südtirol zu greifen begannen, erlebte die Koku-Gruppe am eigenen Leib die Auswirkungen der verschärften Maßnahmen. War man gerade noch zusammen in Brixen gesessen, fand man sich wenige Stunden später in -Quarantäne in Deutschland wieder oder saß in seinem abgelegenen Heimatdorf in den italienischen Alpen fest.

Anna erlebte die Lage entspannt in der Nähe von Frankfurt, Daria war gerade am Bozner Flughafen gelandet, um dann mit dem letzten EC wieder nach Hause in die Niederlande zu fahren, Isabella saß in ihrem 1.000-Seelen-Dorf im Fleimstal, Chiara im friulischen Pordenone, Paula berichtete im badischen Gaggenau von ihrer „Flucht aus dem Risikogebiet“ und wurde in eine zweiwöchige Quarantäne geschickt. Eva beschloss, nicht nach Leverkusen zurückzukehren, sondern in Bozen zu bleiben: „Es war die richtige Entscheidung, ein großes Lob für das italienische Hochschulsystem. In Deutschland wurde der Semesterstart verschoben, hier hingegen alles auf Online umgestellt, Vorlesungen wie auch Prüfungen.“

Südtirol als sicheren Ort wählte auch Greta, die nicht nach Modena zurückkehrte, Verena zog zum Freund nach Leifers und hält Kontakt zur Familie in Wolkenstein, Stefanie unterstützt Freund und Mutter in Bozen, die in Turnusdiensten eingespannt sind. Chiara fuhr in die Krisenregion Lombardei zurück, nach Varese: „In Südtirol hatte ich mich sicherer gefühlt.“ Aber der Familie gehe es gut, und das sei schon viel.

Am stärksten hat es vermutlich die Studentin herumgewirbelt, die wir hier Lena nennen wollen, um sie und ihre Familie nicht in weitere Schwierigkeiten zu bringen. Ausgerechnet im Großraum München, wo bereits im Februar eine Firma wegen mehrerer Coronainfektionen geschlossen worden war und die Behörden trotz Ansteckungen in einer Klinik mit demonstrativer Gelassenheit reagiert hatten, wurden plötzlich die -medialen Scheinwerfer auf Südtirol als Risikogebiet Nummer Eins gerichtet.

Lena hatte Schnupfen und leichtes Fieber, was sie selber weit weniger beunruhigte als ihre Umwelt in der bayerischen Landeshauptstadt: Sie wurde in eine isolierte Einliegerwohnung gesteckt, die Schwester zog zu einer Freundin, um weiterhin in die Schule gehen zu dürfen; der Vater musste zu Hause bleiben, die Mutter durfte zu ihrem Arbeitsplatz in der örtlichen Schule gehen. Auf Druck von allen Seiten entschloss Lena sich, die bayerischen Behörden zu verständigen: „Es war eine Odyssee: Drei Stunden hing ich in der Warteschleife der Hotline, telefonierte und wartete zwei Tage lang, bis um 22 Uhr in der Nacht ein Arzt bei mir auftauchte. Abstrich im Rachen, nach zwei Minuten war er wieder weg und seitdem warte ich auf das Ergebnis.“

Derweilen bleibt die Gruppe über Whats-App und die Online-Vorlesungen an der Uni Bozen in Kontakt, die Analyse der Ereignisse hilft den meisten, sie einzuordnen. „Es ist so ein krasser Kontrast, meine italienischen Kollegen, die gar nicht mehr aus dem Haus dürfen und alle solidarisch sind. Und hier geht das Leben normal weiter“, sagt Anna in Frankfurt.

„Ich habe nun einen 360-Grad-Blick auf die Ereignisse“, sagt Chiara aus Varese. „Meine einzige Chance, ein soziales Leben zu führen, sind die Online-Vorlesungen, die ein faszinierendes Forum zwischen unseren Stimmen aus ganz Europa bilden. Was uns alle eint, ist die große Unsicherheit“, sagt Martina aus Bari.

Die Gruppe hält zusammen, digital. Am Donnerstag werden wieder alle pünktlich um 10 Uhr zur Vorlesung kommen. Online.

von Stephanie Risse

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