Vor einem Monat untersuchte der Sterzinger Moritz Messner die ersten Coronafälle in Österreich. Vier Wochen später sagt er: „Wir alle haben das Ausmaß unterschätzt.“
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Aus ff 13 vom Donnerstag, den 26. März 2020
Das Coronavirus ist einem chinesischen Labor entwichen. Oder einem amerikanischen? Verschwörungstheorien haben in Krisenzeiten Konjunktur. Aber warum ist das so?
„Das hypothetische Modi-Sars-Virus ist mit dem natürlichen Sars-Cov in fast allen Eigenschaften identisch. Die Inkubations-
zeit, also die Zeit von der Übertragung des Virus auf einen Menschen bis zu den ersten Symptomen der Erkrankung, beträgt meist drei bis fünf Tage, kann sich aber in einem Zeitraum von zwei bis vierzehn Tagen bewegen. Fast alle Infizierten erkranken auch. Die Symptome sind Fieber und trockener Husten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot, in Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge, Schüttelfrost, Übelkeit und Muskelschmerzen. Ebenfalls auftreten können Durchfall, Kopfschmerzen, Exanthem (Ausschlag), Schwindelgefühl, Krämpfe und Appetitlosigkeit. Die Letalität ist mit 10 Prozent der Erkrankten hoch, jedoch in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Kinder und Jugendliche haben in der Regel leichtere Krankheitsverläufe mit Letalität von rund 1 Prozent, während die Letalität bei über 65-Jährigen bei 50 Prozent liegt.“
Auszug aus einem Risikobericht des deutschen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz aus dem Jahr 2012
Der Bericht zur Risikoanalyse des deutschen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz aus dem Jahr 2012 hat es in sich. Detailliert wird ein Szenario gezeichnet, in dem ein Coronavirus Land und Leute überrollt. Die Parallelen mit dem aktuellen Virus Sars-Cov-2 sind verblüffend. Gerade so, als ob die deutschen Bevölkerungsschützer bereits vor acht Jahren von der Pandemie gewusst hätten.
Idealer Stoff für Verschwörungstheoretiker. In der Tat kursieren bereits die absurdesten Geschichten darüber in den verschiedenen Foren im Internet: Ha, die Deutschen haben das Virus in die Welt gesetzt, um irgendwann einen Impfstoff zu präsentieren und Kassa zu machen! Oder: Die Deutschen wussten schon lange, dass das Virus kommt und haben ein geheimes Gegenmittel entwickelt, daher ist bei ihnen auch die Sterberate wesentlich geringer.
Das ist zwar völlig aus der Luft gegriffen, für viele Menschen sind es aber trotzdem reizvolle Theorien. Warum ist das so? Warum haben Verschwörungstheorien gerade in Krisenzeiten Konjunktur? Denn dass es die Deutschen gewesen sein sollen, die das Virus in Umlauf gebracht haben, ist nur eine Theorie. Eine andere besagt, dass das Virus einem chinesischen Labor entwichen sei. Oder wahlweise einem amerikanischen.
„In Krisenzeiten“, sagt Claus Oberhauser, „dienen Verschwörungstheorien dazu, Sinn in einer chaotisch gewordenen Welt zu finden.“ Damit einher gehe ein Vertrauensverlust, sagt der Hochschulprofessor für Geschichtsdidaktik an der Uni Innsbruck und an der pädagogischen Hochschule Tirol. Wem nicht mehr vertraut werde? Erstens den offiziellen Meldungen und damit dem Staat. Zweitens „den Medien“, die bei Verschwörungstheoretikern im Verdacht stehen, gefärbte und damit nicht sachliche Mitteilungen zu liefern. Und drittens misstrauen sie auch den Wissenschaftlern, die selbst als Teil der Verschwörung angesehen werden.
Besonders anfällig für Verschwörungstheorien, sagt der Historiker Oberhauser, seien Menschen, die eine persönliche Krise durchleben: etwa wegen einer Krankheit oder des Verlusts des Arbeitsplatzes oder des Partners.
Verschwörungstheorien machen die Welt bedeutsam, weil sie Chaos und Zufall ausschließen. Für viele wird die Welt dadurch verständlicher, weil sie eine vereinfachende Erklärung für politische und soziale Entwicklungen liefern. Sie sind eine Strategie zum Umgang mit Ungewissheit und zur Lösung von Unklarheiten.
„Für manche Menschen“, sagt Claus Oberhauser, „ist es leichter zu akzeptieren, dass eine Gruppe von Übeltätern insgeheim die Fäden zieht, als sich der Möglichkeit zu stellen, dass niemand die Fäden zieht und dass manchmal Dinge einfach passieren.“ Auf diese Weise erfüllen Verschwörungstheorien ähnliche Funktionen wie Religion, da sie eine Erklärung dafür liefern, wie die Welt funktioniert. Verschwörungstheorien werden daher oft mit einer Tendenz zu esoterischen Überzeugungen oder „magischem Denken“ in Verbindung gebracht.
Und was machen Verschwörungstheorien mit uns, Herr Oberhauser?
– Verschwörungstheorien bringen uns zum Nachdenken darüber, ob die Welt wirklich so ist, wie es scheint. Sie fordern etablierte Medien heraus, die Quellen und deren Interpretation offenzulegen. Verschwörungstheorien zeigen uns oft blinde Flecken unserer eigenen Auffassung von Wirklichkeit. Gerade Personen, die mit Identitätsproblemen zu tun haben, werden häufig von Verschwörungstheorien angesprochen, da sie suggerieren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Solche Menschen können sich damit identifizieren. –
Nimmt das Phänomen eher zu oder ab?
– Dies ist schwierig zu beantworten, da Verschwörungstheorien in der Geschichte der Menschheit immer schon vorhanden waren. Durch das Internet werden sie sichtbarer und man kann sie schneller verbreiten. –
Wie kann man Verschwörungstheorien erkennen?
– Grundsätzlich folgen Verschwörungstheorien drei Konstanten: 1. Nichts ist, wie es scheint: Der Blick hinter die Kulissen oder unter die Oberfläche offenbart neue Zusammenhänge. 2. Es gibt keine Zufälle. 3. Alles ist miteinander verbunden. Darüber
hinaus teilen Verschwörungstheoretiker die Welt in Gute und Böse ein. Offensichtlich ist auch die exorbitante Betonung des Begriffs „Wahrheit“. Stutzig machen sollte uns auch, wenn verschiedene diffuse Akteure wie Illuminaten, Bilderberger oder die Impflobby vorkommen. –
Können Verschwörungstheorien auch gefährlich sein?
– Verschwörungstheorien können gefährlich sein, wenn das Misstrauen dazu führt, dass Menschen gewaltsam gegen Mitglieder diffamierter Gruppierungen vorgehen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass etwa das bewusste Nicht-Impfen auch zu gesellschaftlichen Problemen führen kann. –
Eine der populärsten Verschwörungen in der Geschichte war jene gegen Julius Caesar im Jahr 44 vor Christus. Er wurde von einer Gruppe von etwa 60 Senatoren getötet. Für eine echte Verschwörung ist dies bereits eine ziemlich große Gruppe. Doch verglichen mit dem, was die meisten Verschwörungstheorien behaupten, ist sie winzig.
Die Verschwörung gegen Caesar hat ihr kurzfristiges und bescheidenes Ziel erreicht: Caesar wurde getötet. Sie erwies sich jedoch als kontraproduktiv im Hinblick auf ihr langfristiges Ziel – die Erhaltung der römischen Republik. Denn sie löste einen Bürgerkrieg aus, der schließlich zur Gründung des römischen Kaiserreichs führte.
Im Mittelalter kamen mit dem Ausbruch der Pest viele Verschwörungstheorien auf. Das wichtigste historische Ereignis, das Verschwörungsdenken in einem größeren Maße gefördert hat, war nach Ansicht von Historiker Oberhauser die Französische Revolution. Seitdem spielen Gruppierungen wie Freimaurer oder Illuminaten immer wieder eine wichtige Rolle.
Verschwörungstheorien sind übrigens kein Minderheitenprogramm, sondern finden in großen Teilen der Gesellschaft Gehör. Nach Umfragen glaubt zum Beispiel eine Mehrheit (51 Prozent) in den USA, dass Teile der damaligen US-Regierung an der Ermordung des Präsidenten John F. Kennedy beteiligt waren. Weiters wird geglaubt an außerirdisches Leben, von dem die US-Airforce Kenntnis habe und verschweige (47 Prozent); oder aber an einen einflussreichen Geheimbund, der die weltweite Macht an sich reißen möchte (28 Prozent). Jüngste Umfragen in Europa ergaben ähnliche Werte.
Eines haben Verschwörungstheorien gemein: Sie spiegeln das Bedürfnis nach einer vormodernen Weltsicht wider: Ihre Anhänger verlangen nach der absoluten Wahrheit. Doch die ist meist verdammt schwer zu finden.
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