Ich muss zuhause bleiben. Ich weiß, es ist zum Schutz des Lebens, aber es ist trotzdem schwer. Achten wir auf uns. Und auf unsere Rechte.
Gesellschaft & Wissen
Zeitenwende
Aus ff 13 vom Donnerstag, den 26. März 2020
Wenn der Zeitgeist vom Virus der Veränderung heimgesucht wird, bleibt mancher Vorsatz auf der Strecke – zumindest auf der Brennerstrecke.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, im planetarischen Ernstfall sofort die Südtiroler „splendid isolation“ als Zufluchtsort zu wählen. Eigentlich hatte ich vor, meine 97-jährige Mutter im Bozner Blindenzentrum zu besuchen. Daraus wird vorerst nichts. Zum ersten Mal seit Generationengedenken liegt das Land an Eisack, Etsch und Rienz nicht im Windschatten aller Weltkrisen, sondern im Einzugsgebiet einer italienischen Katastrophe. Die Mama hingegen liegt gesund und leidlich vergnügt als Mitglied einer Risikogruppe hinter den Barrieren ihres Heims, die selbst für Söhne unüberwindlich sind.
Nicht einmal über den Brenner wäre ich ohne Quarantänezwangspause hin- und zurückgekommen, die österreichische Regierung hat die Grenze geschlossen. Diesmal nicht nur zwecks Verhinderung aller Sozialkontakte mit Flüchtlingen, sondern mit den italienischen Nachbarn insgesamt, dem Südtiroler Brudervolk inklusive. Dass zeitgleich die Tourismushochburg Ischgl einen erheblichen Beitrag zur Internationalisierung der Coronakrise leistet, zählt zu den Paradoxa des Ausnahmezustands. „Die Behörden haben alles richtig gemacht“, so die Standardantwort des Tiroler Gesundheitslandesrates Bernard Tilg auf alle kritischen Nachfragen von ZIB2-Moderator Armin Wolf. Das darf man – mittlerweile im Konsens mit der ermittelnden Staatsanwaltschaft – bezweifeln. Für die Bundesregierung hingegen gilt bis auf Weiteres die Rechtschaffenheitsvermutung. Der entscheidungsfreudige Kanzler Sebastian Kurz, sein besonnener Innenminister Karl Nehammer, vor allem aber der fachlich und rhetorisch versierte Gesundheitsminister Rudolf Anschober bilden ein überzeugendes Krisentriumvirat. Die FPÖ glänzt durch Abwesenheit. Nicht einmal ihr Ex-Chef Heinz-Christian Strache, der seine Ibiza-Quarantäne überlebt hat, greift zur populistischen Virenschleuder. Sollte die Coronakrise eine Pandemie der politischen Vernunft zur Folge haben?
Im ORF-Zentrum sind viele der Büros leer. Wer mir begegnet, stellt die Frage, wann ich zuletzt in Südtirol war, neuerdings mit sorgenvollem Unterton. Die Zeiten der Kontaktarmut bereichere ich mit einsamen Spaziergängen durch das verwaiste Wien und hin zu meinen Bildungslücken. Endlich kann ich Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ lesen, nicht unpassend zur aktuellen Zeitenwende. Immerhin haben die Macrons, die Trumps, die Johnsons dieser Welt hinausposaunt, dass wir uns in einem „Krieg“ befinden. Mir scheint Zweigs Einsicht, dass ihn alle Sorgen und Erbitterungen „recht liliputanisch dünken“, weil die „Dimensionen dieser Zeit unsere Optik verändert“ haben, recht modern.
In der Mariahilferstraße brüllt mir das Megafon eines Polizeiautos „I am from Austria“ entgegen. Mich dünkt, dass Operngesänge von römischen Balkonen besser klingen, und mir dämmert, dass das Virus der Nationalstaaten noch nicht besiegt ist. Auch hier hilft Zweig: „So war ich gewissermaßen geimpft mit Misstrauen gegen die Infektion patriotischer Begeisterung, und vorbereitet wie ich war gegen diesen Fieberanfall der ersten Stunde, blieb ich entschlossen, meine Überzeugung von der notwendigen Einheit Europas nicht erschüttern zu lassen.“
Aus dem Radio erfahre ich die italienischen Opferzahlen. Dann prophezeit ein Soziologe, dass die Krise einen Quantensprung der Digitalisierung auslösen wird. Ich zweifle, doch tags darauf liefere ich einen schlüssigen Beweis: Ich führe ein Videotelefonat mit meiner Mutter – das erste ihres langen Lebens.
Andreas Pfeifer
Corona in der Welt: An dieser Stelle berichten in den kommenden Wochen Südtiroler Journalisten im Ausland, wie sie die Krise erleben.
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