Gesellschaft & Wissen

Kopf und Corona

Aus ff 14 vom Donnerstag, den 02. April 2020

Georg Mair
© FF Media
 

In diesen Tagen frage ich mich oft, welche Fragen man noch stellen darf. Das Virus bringt uns auch geistig in den Ausnahmezustand.

Mein Blick, bemerke ich, ist schon deformiert. Wenn ich einen Film im Fernsehen sehe, denke ich mir: Die Leute halten zu wenig Abstand, sie geben einander die Hand.

In den Sendungen der Rai ist jetzt eingeblendet: Aufgenommen vor dem Dekret des Ministerpräsidenten. So, als würde der Sender sich strafbar machen, wenn er Menschen zeigt, die einander die Hand schütteln, küssen oder umarmen.

Wir sind in der Krise jetzt sehr gehorsam, Befehle von oben werden nicht in Frage gestellt.

Die Jungen beklagen sich jetzt über die Alten, dass sie zu oft mit dem Hund Gassi oder jeden Tag einkaufen gehen. Für eine Tube Mayonnaise, sagen die Jungen dann. Die Alten sind jetzt auf einmal die, die Regeln nicht einhalten.

Wenn ich mit dem Rad zum Einkaufen oder zur Arbeit fahre, mache ich um die Leute, die mir begegnen, einen großen Bogen. Neulich habe ich im Zeitungsladen eine Nonne verscheucht, die mir zu nahe kam – so jedenfalls sah ich es.

Jetzt bist du schon geistig im Ausnahmezustand-Modus, sagte ich mir hinterher. Wie die Leute, die die Polizei rufen, wenn sie jemandem in einem Geschäft arbeiten sehen, auch wenn er bei geschlossener Tür ganz für sich allein ist.

Wo liegt die Grenze zwischen Vorsicht und Denunziation? Zwischen Aufmerksamkeit und Hysterie?

Ja nicht räuspern, denke ich, wenn ich vor dem Lebensmittelladen anstehe und die anderen beäuge und sie mich.

Es ist jetzt die Stunde der Experten, selbstgewiss treten sie in Radio und Fernsehen auf. Woher wissen sie bloß immer, was zu tun ist, wissen sie so viel über ein Virus, über das man, so sagen es wiederum Experten, noch wenig weiß? Und mit diesem Wissen regieren sie jetzt mit.

Die Mikrophone der Fernsehjournalisten tragen jetzt ein Verhüterli.

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich über Minuten keine Autos über die Brücke fahren, niemanden, der den Eisack entlangspaziert. Ich muss es hinnehmen, aber es gefällt mir nicht, dass ich nicht laufen gehen kann. Der Gang zum nächsten Laden ist eine Befreiung, die Luft so frisch wie selten zuvor.

Die Gesprächspartner, die ich anrufe, haben jetzt meistens viel Zeit. Es besteht der Bedarf nach Austausch. Darf man in Zeiten wie diesen Fragen stellen, wie: Richtet der Stillstand irreparable Schäden an? Wie lange halten es Menschen aus, daheim eingesperrt zu sein? Man muss es fragen dürfen. Auch wenn das Wort alternativlos noch nie so alternativlos dastand wie jetzt.

Beruhigungspille 1: die Krise als Chance. Viele Leute, fürchte ich, werden keine haben.

Beruhigungspille 2: Zeit zum Nachdenken und Innehalten. Das Erste geht besser in Freiheit als im Arrest, das Zweite freiwillig besser als gezwungenermaßen.

Der Mann im Zeitungsladen prüft meinen zerknitterten 50-Euro-Schein, er hantiert und hantiert am Maschinchen, das den Schein immer und immer wieder ausspuckt. Der Mann gibt ihn mir wieder zurück und sagt: Falschgeld. Ich habe also, wenn es wahr ist, am Bankomat Falschgeld gezogen.

Der Mann steht vor dem Laden, Vlies-Jacke, blauer Schurz, oben eine Zahnlücke, und sagt: Hier gibt es ein gutes Bier, ich kaufe meistens zwei Flaschelen, gestern war es leider aus. Das Bier ist wieder da und gut gekühlt.

Die App Vivino schickt mir ein Angebot für einen Sassicaia, Tenuta San Guido, Jahrgang 2015. Sonderpreis: 310 Euro die Flasche.

Der Papst bittet Gott, er möge die Epidemie beenden. Franziskus muss jetzt ein sehr verzweifelter Mann sein.

Der Landeshauptmann informiert jeden Tag die Medien in einer Video-Pressekonferenz: Er vergisst dabei nie zu erwähnen, dass er am nächsten Tag mit der Regierung oder den anderen Landeshauptleuten beraten wird. Vielleicht sollte er demnächst auch den Landtag informieren. Politik muss auch in -Coronazeiten möglich sein.

Adidas, Deichmann, H&M zahlen die Miete für ihre Läden nicht mehr: Adidas hat im vergangenen Jahr zwei Milliarden Euro Gewinn gemacht, H&M 1,2 Milliarden. Ähnlich verhalten sich Deutschland, Österreich und die Niederlande gegenüber Italien und Spanien. Wenn die EU jetzt nicht begreift, dass sie solidarisch sein muss, geht sie unter – dann haben Salvini & Co. Recht gehabt.

Was mich am meisten wundert, ist, dass an den Börsen spekuliert werden kann wie eh und je, während die Wirtschaft um Luft ringt. Stellt Spekulanten unter Quarantäne!

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