Gesellschaft & Wissen

Auf dürren Zweigen

Aus ff 15 vom Donnerstag, den 09. April 2020

Markus Larcher
© FF Media
 

Der auferlegten Einsiedelei kann ich einiges abgewinnen. Vor allem dann, wenn mein Blick so zielgerichtet wird wie Zorros Degenspitze.

Neue Zeiten, neue Angewohnheiten. Ich habe in meiner Einsiedelei seit kurzem begonnen, Tagebuch zu schreiben – nachdem ich den Rolladen meines Homeoffice heruntergezogen habe (spätabends natürlich). Ich nehme mir dann die Stichwörter her, die ich mir untertage für meine Tagebuchnotizen gemacht habe. Stichwörter zu Beobachtungen, Gedanken, Worten und manchmal auch Werken. Ich stelle fest, dass meine bisherigen Aufzeichnungen viele Natur- und Tierbeobachtungen enthalten.

Ich habe das Glück, dass ich von meinem Schreibtisch aus durch ein großes Fenster direkt ins Grüne blicken kann. Da war zum Beispiel gestern dieser Grünspecht auf dem Nussbaum.

Ich habe festgestellt, dass er viel wählerischer ist als sein Genosse Buntspecht, der da auch gerne anlandet. Der Buntspecht ist nervöser, absolviert mehr Laufmeter auf den Ästen und muss auch viel mehr Probebohrungen durchführen, um fündig zu werden. Nicht so der Grünspecht. Mit Röntgenblick, so scheint es, scannt er das Innere von Stamm und Ästen auf mögliches Gewürm ab – um ehestens weiterzufliegen, wenn sich nix rührt.

Er ist der Zielgerichtetere unter den Spechten, der Coolerere, wenn man so will. Trommelwirbel um des Trommelns willen, ist seine Sache nicht. Dank seiner schwarzen Gesichtsmaske ist er ein fliegender Zorro. Und wie dieser mit einem einzigen Degenstich gegebenenfalls gleich zwei Halunken niederstrecken kann, gelingt es dem Grünspecht mit einem einzigen hackenden Schlag ein ganzes Wurmnest auszuheben – ganz abgesehen davon, dass sein schriller Schrei ein ganzes Regiment in Schockstarre versetzen kann.

Ich kann an dieser Stelle an Johann Gaudenz von Salis-Seewies’ wunderbares Gedicht „Die Einsiedelei“ erinnern:

„Nichts unterbricht das Schweigen
Der Wildnis weit und breit,
Als wenn auf dürren Zweigen
Ein Grünspecht hackt
und schreit,
Ein Rab’ auf hoher Spitze
Bemooster Tannen krächzt,
Und in der Felsenritze
Ein Ringeltäubchen ächzt.“

Warum nach dem Grünschnabel nun auch der Grünspecht immer öfter für Unerfahrenheit, Unwissenheit oder Ignoranz herhalten muss, bleibt mir rätselhaft – aber einerlei.

Was will mir nun dieser Grünspecht sagen? Dass ich mich besser an einer zoologischen Abhandlung versuchen sollte als am Artikel, an dem ich gerade arbeite (und der mich zur Verzweiflung bringt)? Hätte zugegebenermaßen etwas Reizvolles. Hat mich nicht „Brehms Tierleben“, der Klassiker unter den zoologischen Nachschlagewerken schlechthin, schon immer begeistert? So wie Alfred E. Brehm im 19. Jahrhundert über die Rachsucht des Schweines, die Bosheit des Hamsters, den Blutdurst des Maulwurfs und den Esel als „verabscheuungswürdigen Tonverderber“ geschrieben hat – das lässt sich nicht toppen. Gediegene Wissenschaftsprosa. Nein, Literatur! Da würde ich mich allenfalls als Grünling profilieren. Nein, die Botschaft dieses Vogels muss eine andere sein. Aber welche?

Nun, Alfred E. Brehm verlieh unseren tierischen Mitbewohnern menschliche Wesenszüge. Und vielleicht ist das auch der Missing Link! Mit dem Grünspecht kommt zweifelsohne auch eine Person angeflogen, die das Virus mir derzeit auf Abstand hält. Ein Segen? Ein Fluch?

Was weiß denn ich! Bevor ich mich nun auch an der Beantwortung dieser Fragen versuche, verzweifle ich lieber produktiver – und wende mich wieder meinem noch zu schreibenden Artikel zu.

Sollten das Virus und ich in dieser Rubrik jemals wieder zusammen finden, will ich mich jedenfalls gewichtigeren Fragen zuwenden. Zum Beispiel der, wie ich die zwei Libanon-Zedern beim Nachbar, die mir zusehends den Fernblick versperren, eliminieren kann, ohne dass er es merkt.

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