Gesellschaft & Wissen

Das gute Leben für alle

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020

Monokulturen
Die Landwirtschaft und ihre Fixierung auf Monokulturen schaffen Abhängigkeiten – und die Weltmarktorientierung nimmt zu, ist Susanne Elsen überzeugt. © Alexander Alber
 

In der Corona-Krise offenbaren sich Fehlentwicklungen gnadenlos. Wir müssen jetzt beginnen, etwas zu verändern, sagt die Soziologin Susanne Elsen.

Dienstag vergangener Woche. Susanne Elsen sitzt zum Zeitpunkt des Telefongesprächs mit diesem Magazin alleine in ihrem Büro in Brixen. Dort, wo für gewöhnlich das Universitätsleben wuselt, hat sich am zweiten Sitz der Freien Universität Bozen – dank Coronakrise – gähnende Leere breitgemacht. Hier hält die Professorin für Sozialwissenschaften und Leiterin des Studiengangs „Sozialpädagogik“ an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät auch ihre Online-Lehrveranstaltungen ab. Hier verfügt sie über die entsprechende Technik und vor allem über die nötige Übertragungsqualität. Elsen gibt sich überrascht, wie engagiert sich ihre Studenten auch online einbringen und sich zu organisieren wissen. Sie glaubt, dass die Ausgangsbeschränkungen die Selbstorganisationskräfte bei den Studierenden gestärkt haben.

ff: Frau Elsen, wie schauen Sie als Soziologin auf die Corona-Krise?

Susanne Elsen: Ich beobachte, wie sie auf Strukturen, Prozesse, Institutionen und mit bisher unhinterfragten Vorstellungen in unserer Gesellschaft wirkt. Mir erscheint es wie eine Zeitenwende. Nichts ist mehr wie vorher, und vieles, was bis vor wenigen Monaten noch als zukunftsfähig dargestellt werden konnte, ist heute vergangene Zukunft. Diese Krise legt in unseren europäischen Gesellschaften gnadenlos Fehlentscheidungen, Fehlentwicklungen und falsche Prioritäten der vergangenen drei Jahrzehnte offen. Es zeigt sich, dass man in den falschen Bereichen gespart hat, etwa im Gesundheits- und Pflegebereich. Es offenbart sich, wie stark unsere Weltmarktorientierung zugenommen hat, und damit auch die Abhängigkeiten in Schlüsselbereichen.

Die da wären?

Die Landwirtschaft und ihre Fixierung auf Monokulturen oder die Abhängigkeit vom Tourismus als einzige und wichtigste Einnahmequelle. Unreflektierte Wachstumsfokussierung,

Privatisierungen, Spekulation im
Immobilienbereich, die wir zugelassen haben, oder auch der Umstand, dass wir nicht auf lokal-regionale Schlüsselsegmente gesetzt haben. Schon vor
30 Jahren hat man davon gesprochen, Basis­sektoren der lokalen Grundversorgung aufzubauen, damit man als Gesellschaft resilient, belastbar wird angesichts all der Umbrüche, die global bedingt kommen. Wir haben das in unseren europäischen Gesellschaften nicht beherzigt. Ich bin ja Deutsche, und die Fehler, die wir gemacht haben, sehe ich in Deutschland noch viel mehr als hier in Südtirol. Aber die Tendenzen sind die gleichen, wir haben alle

nach dem gleichen Programm
gehandelt.

Ist jetzt, wo auch wirtschaftlich überall nach Luft gerungen wird, der richtige Zeitpunkt, um sich in neuen und
alternativen Wirtschaftsmodellen
zu üben?

Menschen mit einem Kreativ­potenzial, einem kritischen Bewusstsein, Menschen mit einer konsumkritischen Haltung und dem Wissen um die Notwendigkeit einer radikalen ökosozialen Wende können die Krise als Chance verstehen. Wann, wenn nicht jetzt, können und müssen wir beginnen, etwas anders zu machen? In Kärnten hat innerhalb einer Woche der lokal-regionale Onlinehandel um 300 Prozent zugenommen, weil Menschen den Zusammenhang der Pandemie mit dem Welthandel verstanden haben. Tatsächlich bietet diese Krise die Chance, dass wir mal gründlich darüber nachdenken, was wir wirklich wollen und brauchen. Dazu gehören neue Prioritätensetzungen – auch, aber nicht nur – individuell und lokal etwa im Bereich der lokal-regionalen Selbstversorgung und Unabhängigkeit vom Weltmarkt bei Lebensmitteln. Aber auch im radikalen Überdenken unserer großzügigen Subventionspolitik ohne Auflagen bezüglich ihrer Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Es wäre die Chance, dass wir uns über das gute Leben für alle, auch für die zukünftigen Generationen, und seine Voraus­setzungen Gedanken machen.

Der Ruf nach einem anderen
Wirtschaften hat schon vor Corona wenig Echo erzeugt.

Diese Wirtschaftsformen wachsen als Gegenentwürfe zum Wachstumsdogma und zur ökosozialen Zerstörung von unten und fragen nicht danach, ob ihnen die Volkswirtschaften die
Legitimation erteilen. Sie sind Teil einer wachsenden ökosozialen Bewegung. Ich habe die Hoffnung, dass ihre Zeit jetzt wirklich reif ist, auch weil sie aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstanden sind. Sie entstehen auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen, dass man etwas tun muss und es so nicht weitergeht. Von diesen Gegenentwürfen wird es jetzt noch mehr geben. Wir sehen das in der innovativen Landwirtschaft, im kreativen Handwerk, im Bereich des Wohnens und der Gemeinschaftsformen und vielem mehr. Bevor wir aber von einer breiten ökosozialen Transformation sprechen können, wird im
Wiederaufbau nach dieser Krise noch eine ganze Weile Krisenbewältigung im Zentrum stehen. Ich bin nicht die
Einzige, die massive Armut und Arbeitslosigkeit auch im reichen Europa fürchtet. Ich spreche noch nicht von den Weltregionen des globalen Südens, die erst jetzt von der Pandemie betroffen sind.

Keine Sorge, dass man nach dieser Krise dort weitermacht, wo man
aufgehört hat?

Doch, diese Sorge habe ich angesichts der bestehen Machtverhältnisse. Beispiele liegen bereits auf dem Tisch. Die Angebote, dass Klein- und Kleinstunternehmen Mietzahlungen angesichts der Liquiditätsschwierigkeiten ihre Kredite stunden können, wurden erfreut von Milliardären wie Herrn René Benko oder Großunternehmen wie Adidas aufgenommen. Benko hat davon gesprochen, dass beim Kaufhof-Karstadt-Konzern, bei dem er Großinvestor ist, weitere Arbeitsplätze abgebaut werden, nachdem im vergangenen Jahr bereits 2.600 abgebaut wurden. Wenn es jetzt wieder um solche Erpressungen geht, fürchte ich, dass wir etwas Ähnliches erleben werden wie 2008 mit der Finanzkrise. Damals wurden Banken und Großindustrien mit staatlichen Geldern saniert, Unternehmen, welche ansonsten darauf pochen, dass sich der Staat aus dem Wirtschaftsgeschehen heraushält.

Die Idee eines bedingungslosen

Grundeinkommens hat derzeit
Hochkonjunktur, doch Wirtschaftsprofessoren haben da ihre Bedenken …

… Ja, ja, die bekommen Zuckungen und sehen die Leute alle in der Hängematte. Wir wissen aber aus der Anthropologie, dass die Menschen gerne tätig sind und wie beschämend es ist, nicht aktiv sein zu dürfen. Die Modelle, die andernorts punktuell zu Testzwecken eingeführt worden sind, zeigen alle, dass das bedingungslose Grundeinkommen Menschen vom Druck entlastet, sich um jeden Preis und zu jeder Bedingung verkaufen zu müssen. Außerdem schafft dieses Modell gute Voraussetzungen dafür, dass sich beispielsweise die Kreativität gerade auch junger Menschen erschließt. Es wäre auch die notwendige Basis für die Erschließung eines lokal-regional orientierten Bereiches, notwendiger, sinnvoller und zukunftsfähiger Arbeit zum Beispiel im Bereich der Pflege, der Bildung, der städtischen Subsistenz und der Realisierung ökosozialer Experimente, die sich am guten Leben für alle orientieren. Das sind Arbeiten, welche der Markt nicht erschließt, die aber für die Gesellschaft essenziell sind.

Was stellt diese Krise mit unserer Gesellschaft an?

Sie zwingt uns zum Anhalten. Wir erleben eine unvorstellbare Vollbremsung. Sie irritiert, verunsichert, macht mit Recht Angst, und stellt auf einmal Menschen, Aktivitäten und Institutionen ins Zentrum, die vorher kaum beachtet und honoriert wurden. Armut und sogar Hunger sind plötzlich auch bei denen angekommen, die sich vor zwei Monaten noch auf der Seite der Gewinner sahen. So geschehen bei Kleinstunternehmen, Selbstständigen, welche laufende Kosten und keine Einnahmen haben. Viele haben von heute auf morgen ihre Existenzbasis verloren und wissen nicht weiter. Diese Krise verändert mit rasenter Geschwindigkeit unser Wirtschafts- und Sozialgefüge und zwingt uns gleichzeitig zur Ruhe und einige auch zur Handlungslosigkeit.

Sind wir durch die Pandemie zu einer größeren Solidargemeinschaft herangewachsen?

Ist diese Solidargemeinschaft nicht reiner Selbstschutz? Dass wir bestimmte Risikogruppen isolieren, ja wegsperren? Dass man an manchen Orten auf einmal Obdachlose oder Migranten in Hotelzimmern oder anderen Unterkünften unterbringt, hat nichts mit Solidarität zu tun. Die Krise zwingt uns dazu. Mich hat ein anderer Aspekt mehr erstaunt. Nämlich dass diese ganzen sozialen Distanz-Maßnahmen sofort geklappt haben. Ganz anders der Umgang mit den Gefahren des Klimawandels. Dabei handelt es sich ja nicht um Gefahren, die weniger real wären. Sie haben aber in keinster Weise dazu geführt, dass man eine wie immer geartete konsequente Antwort darauf gegeben hätte.

Weil die Bilder von den Särgen auf
Militärkonvois oder der Aushub von Massengräbern in New York alles andere verdrängen?

Das sind erschreckende Bilder, die natürlich viel unmittelbarer wirken. Es liegt nahe, dass da alles andere ausgeblendet wird. Zu Unrecht, denn die Klimakatastrophe rollt nur zeitverzögert, dafür aber mit Wucht auf uns zu. Aber um dem Ganzen auch etwas Positives abzuringen: Es gibt auch noch die anderen Bilder, zumindest in Italien, und dafür ernten wir viel Sympathie anderer Länder. Da gibt es die Menschen, die auf den Balkonen stehen und für das Sanitätspersonal anerkennend klatschen oder Musik machen. Das ist eher das, was ich mit Solidargemeinschaft in Verbindung bringe: Die Stärke einer Zivilgesellschaft, die sagt: Andrá tutto bene – Wir schaffen das. Und das ist das Gegenbild dieser Krise: Man macht sich gegenseitig Mut, es gibt viel gegenseitige Aufmerksamkeit und spontane Hilfe.

Wann zerbricht eine Gesellschaft?

Dann, wenn die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ein gewisses Maß übersteigen, wenn die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen denen, die Chancen haben und denen, denen sie vorenthalten werden, sich zu weit öffnet. In diese Richtung entwickelt sich unsere Gesellschaft, lokal und global. Diese Krise macht nicht nur die Ungleichheit überdeutlich, sie verschärft sie auch. Wie wollen wir das Ziel – sofern wir es dann noch haben – einhalten, dass wir alle mitnehmen, weil alle gebraucht werden?

Ist auch die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft in Bedrängnis?

Ja, klar. Was machen bildungsferne Eltern in einer Zeit, in der Unterricht auf Onlinelehre umgestellt wird? Wie geht es einer Familie mit zwei oder drei Kindern in einer Sozialwohnung ohne Privatgarten, wenn sie wochenlang eingesperrt wird? Was passiert da alles an häuslicher Gewalt, an Gewalt gegen Frauen? Wie gehen wir damit um? In Berlin gab es jetzt um zehn Prozent mehr Anzeigen wegen häuslicher Gewalt als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres. Und das sind nur die angezeigten, also sichtbaren Fälle. Die Quarantäne-Situation übt einen erhöhten Druck auf Frauen aus, weil ein veraltetes Rollenverständnis sie in einer stärkeren Weise in die Verantwortung zwängt, für das Rundumglück in der Familie zu sorgen.

Zu einem anderen Aspekt dieser Krise: Der Staat greift massiv in unsere Grundrechte ein. Ein notwendiges Übel?

Es gab begründete Restriktionen, andere könnten eher als Schikane ausgelegt werden, weil sie nicht leicht nachvollziehbar waren. Wichtig ist, dass wir nach der Krise auf der Basis unserer vollen bürgerlichen Rechte und vielleicht auch ihrer Erweiterung weitermachen. Viele Menschen wissen gar nicht, wie groß mittlerweile die technologischen Möglichkeiten sind, und kennen auch nicht die Interessen, die hinter dem sogenannten gläsernen Menschen stehen. Die Handy-Überwachung und andere Systeme mögen sanft daherkommen, mit Argumenten, die Bürger zunächst sogar als nachvollziehbar erachten, Stichwort Corona-App. Wir müssen da sehr aufpassen. Die Krise darf kein Versuchslabor für einen Überwachungsstaat sein. Gleichzeitig sollten wir einen neuen Demokratie-Diskurs führen. Was sind im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bürgerliche Rechte? An welchen Stellen sind Bürgerinnen und Bürger direkt gefragt, wenn es um die Einführungen von neuen Technologien oder um Projekte geht, die ihr Leben betreffen?

Manche Bürger überbieten sich darin, Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen zu melden. Der Bürgermeister von St. Lorenzen beispielsweise hat Jugendliche auf Facebook öffentlich an den Pranger gestellt, weil sie sich nicht an das Ausgehverbot gehalten haben.

In Zeiten politischer Restriktionen entpuppen sich manche Kleingeister als Vollstrecker eines Programms der Ruhe und Ordnung. Sie observieren ihr soziales Umfeld und werden zu Denunzianten. Wir kennen das aus zwei deutschen Regimen. Der Blockwart war das Konstitutiv der Diktatur. Diese Menschen merken nicht, dass sie damit den gesellschaftlichen Zusammenhang zerstören, auf den auch sie angewiesen wären. Wenn man sich plötzlich von „Spionen“ umringt wähnt, dann macht das gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität kaputt, ebenso das Interesse aneinander. Dann wird gegenseitiges Misstrauen geschürt. In dieser Krise braucht es Augenmaß, und zwar von allen, insbesondere auch von Entscheidungsträgern und Ordnungskräften.

Welche Forschungsfrage würde Sie als Soziologin zur Corona-Krise besonders interessieren?

Ich würde gerne in Stadtteilen und Gemeinden mit Bürgerinnen und Bürgern und Vertretern aus Wirtschaft und Politik moderierte Zukunftswerkstätten zur Frage „Wie wollen wir 2030 leben“? initiieren. Es geht um die Fragen: Was wollen wir für unsere Zukunft? Was ist uns wichtig? Was wollen wir nicht mehr? Es gäbe jetzt die Möglichkeit, vieles zu überdenken und Neues zu beginnen und möglichst alle dabei mitzunehmen.

Interview: Markus Larcher

weitere Bilder

  • Überwachung Soziologieprofessorin Susanne Elsen

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