Gesellschaft & Wissen

Schöne neue Welt - Teil 1/7

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020

Schöne neue Welt
Die Kneipen gehen wieder auf, es wird wieder gelacht, geweint, gearbeitet und Fußball gespielt. Aber nicht nur das ... © ff Grafik/freepik
 

Wir schreiben das Jahr 2021. Die Coronakrise ist ­überstanden und hat vieles verändert. Ein nicht ganz ernst gemeinter Blick nach vorne – und zurück von Klemens Riegler. (Teil 1 von 7)

Ich sitze im Schatten einer großen Zeder beim Café St. Anton auf der Talfermauer in Bozen. Die Sonne scheint, es ist warm. Der „Liscio“ ohne Zucker ist besser als früher. Zumindest kommt es mir so vor. Vielleicht hat der Pächter Kaffeesorte gewechselt oder vielleicht schmeckt er mir heute einfach nur besser.

Es ist ruhig hier. Ich höre die Vögel zwitschern, mehr und viel lauter als früher. Im Mai vor zwei Jahren war ich auch hier. Okay, das Wetter war damals nicht so besonders, ich selbst ein wenig gestresst. Selbst das Kaffeetrinken erschien mir als Zeitverschwendung.
Letztes Jahr war zu. Da hat Corona das Leben entschleunigt, um nicht zu sagen still gelegt. Das war nicht einfach. Alles war zu, die Menschen zu Hause eingesperrt. Immerhin sind wir in Südtirol besser weggekommen als die Lombardei. Dort gab es Abertausende Tote. Meist ältere und kränkliche Menschen, aber auch jüngere waren dabei.

Wir hatten bis Herbst einige Hundert Verstorbene zu beklagen. Auch Bekannte, Eltern von Freunden und ein Nachbar von mir sind dem Virus zum Opfer gefallen. Sie waren schon älter. Aber sie waren noch recht rüstig – wie wir oft sagen.

Leute schlendern vorbei. Sie scheinen gelassen, ihre Gesichter strahlen Zufriedenheit aus, sie sind fröhlich. Mir fällt auch auf, dass es nicht nur ältere Menschen sind, die hier flanieren, sondern auch jüngere. Sie spazieren um des Spazierens willen. Ein schöner Gedanke.

Auf dem Nebentisch ist grad einer aufgestanden. Dort liegt eine Tageszeitung. Auf der Titelseite winkt mir ein Fußball entgegen. Klar, heute beginnt die Fußball-Europameisterschaft. Den Sport hat es letztes Jahr ordentlich erwischt. Alle Fußballspiele wurden abgesagt, selbst diese EM ist um ein Jahr auf heuer verschoben worden. Olympia in Tokio teilt dasselbe Schicksal.

Weil ich keine Eile habe, blättere ich durch die Zeitung. „Geburtenrate gestiegen“ lese ich auf Seite fünf. Der Schreiber verweist auf die neueste Statistik, nach der es deutlich mehr Babys gebe. In Südtirol genauso wie in ganz Italien. Auffallend seien die Monate Dezember bis März dieses Jahres.

Frische Luft bläst aus dem Sarntal. Sie riecht heute fast so gut wie vor gut einem Jahr, als Bozens Straßen leergefegt waren. Im Radio hat man gehört, dass am 19. März 2020 insgesamt nur sechzehn Autos auf der A22 unterwegs waren. Das hat es seit der Eröffnung der Autobahn nicht gegeben.

Das Landesamt für Luft und Lärm meldete im April einen Rekordtiefststand bei den Stickstoff- und Staubwerten. Die Werte sind in diesem Jahr wieder schlechter geworden, seien aber immer noch besser als 2019. Dazu passt auch die Meldung auf Seite sieben, wonach vielleicht die sinkende Anzahl an Patienten mit Atemwegsbeschwerden auf die bessere Luftqualität zurückzuführen sein könnte.

Erst vergangene Woche habe ich in einem Südtiroler Wochenmagazin gelesen, dass einige Projekte im Straßenbau aus finanziellen Gründen aufgeschoben werden – und vielleicht gar nicht mehr verwirklicht würden. Laut Gemeinde Bozen sei die PKW-Frequenz um 15 Prozent gegenüber früher gesunken.

Warum? Weil viele Unternehmen im Herbst definitiv viele Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt haben. Ich erinnere mich gut. In der Coronazeit wurden viele zur Arbeit zu Hause verdonnert. Aber nach der Krise hatte man verstanden, dass dieses sogenannte „Smart-Working“ viele Vorteile hat.

Mein Smartphone vibriert – auf dem Display sehe ich, dass mein Investment-Fonds im letzten Quartal wieder 4 Prozent zugelegt hat. Nein, ich habe nie viel spekuliert, aber meine Bank hatte mir bei der Nullzinspolitik zu einer relativ sicheren Anlage geraten. Mit einer Rendite von mindestens 2, wahrscheinlich sogar 5 Prozent.

Sicher werde es aber mehr als Null sein. Der Börsencrash hat mein Erspartes trotzdem halbiert, nun soll es aber wieder aufwärts gehen. Halb so schlimm. Geld ist heute weniger wichtig wie vor Corona. Die Mieten sinken und laut Gewerkschaft sind wir heute dem „leistbaren Wohnen“ schon viel näher als noch vor zwei Jahren.

Nun klingelt es. „Hoi Franz, wia geats? Olls guat bei dir?“ Alles Bestens, antwortet er und fragt mich, ob ich Luft auf ein Bier hätte. Klar, sage ich, wir verabreden uns abends im Schotzn-Heisl. Früher habe ich den Franz öfter versetzt, weil ich keine Zeit hatte – oder wollte ich mir die Zeit nicht nehmen? Egal, ich freue mich, weil im Biergarten auch das EM-Eröffnungsspiel übertragen wird.

Weil grad ein anderes Tagblatt frei wird, und ich noch etwas Zeit habe, greife ich zu. Hier steht zu lesen, dass das Auto nicht mehr als Statussymbol taugt. Rasen sei verpönt, nun ist „Cruisen“ angesagt. Elektroautos liegen im Trend. Das Virus hat auch der Autobranche einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Einige Hersteller haben im Vorjahr mehr Beatmungsgeräte als Autos gebaut.

In einem Artikel über Europa beklagt der Autor, dass die EU zu Beginn der Krise total versagt habe. Anstatt sich gegenseitig zu helfen, ließen die EU-Länder die Grenzbalken herunter. Für sie mussten China, Russland und Kuba in die Bresche springen. Ein Armutszeugnis.

In der Rubrik Weltgeschehen lese ich über eine Initiative für ein weltweites Verbot von Wildtierhandel. Ein längst überfälliger Schritt, denk ich mir, wenn man nach wie vor davon ausgeht, dass dieses Virus (und auch einige vorher) vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist. Da fällt mir auch auf, dass das Virus sogar Bär und Wolf von den Titelseiten verscheucht hat.

Einer weiteren Notiz entnehme ich, dass das Planetarium in Gummer in gewissen Nächten einen so klaren Blick in den Himmel hatte wie noch nie.

Im Hintergrund läuft übrigens ein lokaler Radiosender. „Lisabon“ von Michael Aster kann ich erkennen. Da fällt mir ein, dass die lokalen Stationen seit Monaten noch mehr Südtiroler Musik spielen. Der Tantiemen wegen. Das hat den Musikern gutgetan, sonst waren ihnen ja sämtliche Einnahmen weggebrochen.

Weiter hinten stehen die Vorschläge für das Verdienstkreuz des Landes Tirol. Es geht – und das ist einmalig in der Geschichte – an alle Ärztinnen und Pfleger südlich und nördlich des Brenners. Nach der Gehaltserhöhung vor allem für die, die weniger gut verdient haben, ist das ein wichtiges Zeichen.

Auf der Kulturseite springt mir ein Artikel über Herbert Pixner ins Auge, der für August ein Konzert auf dem Rittner Horn angekündigt hat. Wenn ich zurückdenke, wird mir kalt ums Herz. 2020 war ein krasses Jahr. Von März bis weit in den Sommer hinein gab es eine generelle Konzert- und Theaterpause.

Danach durften langsam wieder erste Aufführungen stattfinden. Vor wenig Publikum. China hatte auch da seine Hände im Spiel, denn ohne den dort entwickelten Impfstoff würde es weiterhin wenig zu beklatschen geben.

Hoppala ... fast die Zeit vergessen. Ich habe ja mit Franz im Schotzn-Heisl ausgemacht. „Tom zahlen!“ Thomas und seine Eltern, die die Bar hier führen, haben die Coronakrise überlebt. Andere Bars und Pubs haben leider zusperren müssen.

Ich schwinge mich auf mein Fahrrad, fahre über die Talfermauer Richtung Süden, biege dort illegal links ab, fahre auf dem Gehsteig (gegen die Einbahn) in die Museumstraße und denke mir dabei wie brav und „legal“ wir doch in der Coronazeit waren.

Wir haben größtenteils die Anordnungen von Ministerpräsident Giuseppe Conte und Landeshauptmann Arno Kompatscher befolgt. #ichbleibzuhause war angesagt. Eigentlich total absurd, freiheitseinschränkend und demokratiepolitisch fragwürdig. Aber wir hatten uns damit abgefunden, und im Nachhinein betrachtet, war es gar nicht so schlimm.

... Obstmarkt, Vintlergasse ... alles wie immer hier! Radl abstellen und hinein in den Innenhof des Schotzn-Heisl. Ich sehe den Franz und mit ihm die Susi, den Lenz, Rupi, Günther, Flori, die Vroni, und die Babsi. Toll!

Seit der Erfahrung, in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein, schätze ich die Gesellschaft von Menschen viel mehr. Okay, es gibt zur Begrüßung zwar kein Bussi links und kein Bussi rechts mehr, aber darauf kommt es nicht an.

Es geht vielmehr um das Zusammensein, um das Reden, um die Wertschätzung füreinander. Susi erzählt, dass sie grad im Urlaub in der Toskana war. Mit dem Zug. Super, weil die Besitzerin des Agriturismo sie direkt am Bahnhof abgeholt hätte. Bis zum Strand gab es Gratis-Shuttle oder Fahrräder. Ihr Mann Lenz sagt, dass es echt geil war: gutes Wetter, sauberes Wasser, fantastisches Essen und ein faires Preis-Leistungs-Verhältnis.

Rupi flüstert fast, als er erzählt, dass er seit Herbst wieder mit seiner Frau zusammen ist. In der Coronakrise war es happig, auch wegen der Kinder. Sie waren zu Hause und die Eltern mussten Lehrer spielen. So etwas kann die beste Beziehung in die Luft jagen.

Im Oktober, sagt Rupi, hätten aber beide eingesehen, dass es Wichtiges und weniger Wichtiges gibt. „Früher haben wir uns eigentlich immer nur wegen Kleinigkeiten gestritten.“ Nun seien sie einander auf einer neuen Ebene begegnet und hätten in Sachen Sturheit jeweils um mehrere Gänge zurückgeschaltet. Das freut auch Günther, der meint, dass Rupi und seine Ruth doch irgendwie zusammen gehören.

Günthers Vater – das wussten wir alle – ist im November an Covid-19 gestorben. Dabei war das Gröbste bereits überstanden. Doch das Virus lässt sich nicht so leicht kleinkriegen. Immer wieder tritt es in Erscheinung, obwohl viele Menschen inzwischen immun sind.

Flori sagt, dass er in diesem Jahr mit Vroni eher auf die Gampen-Alm gehen wird, um so richtig auszuspannen und die Natur zu genießen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die beiden immer mit ihren Weltreisen geprotzt haben ... Malediven, Panama, Südafrika und im Frühjahr mindestens Ibiza oder Lanzarote.

Solche Ziele sind jetzt weniger „in“. Das zeichnet sich auch am Himmel ab. Der Flugverkehr hat deutlich abgenommen, am Himmel sind nur mehr wenige Kondensstreifen auszumachen. Im April des letzten Jahres war es total unglaublich: kein einziger Flieger über den Dächern von Bozen!

Der Kellner bringt noch eine Runde Bier – im Haus gebraut versteht sich. Regional zählt zu den Gewinnern der Coronakrise. Das weiß auch der Lenz, der die Runde zahlt. Ende 2019 hätte er seinen kleinen Lebensmittelladen fast zusperren müssen, aber mit dem Virus sind seine Umsätze nach oben geschnellt.

Lenz’ Frau Susi ist übrigens Lehrerin. Sie erzählt immer noch gerne aus der Coronazeit ... geschlossene Schule, aber trotzdem viel zu tun. Sie war nie die Hellste, was Smartphone und Computer angeht, aber die Krise hat sie dazu gezwungen, sich mit der Materie zu befassen.

Heute ist sie froh, den Schritt gemacht zu haben. Und sie erinnert sich noch gut daran, wie gern die Kinder im September wieder in die Schule gekommen sind. Braver waren sie, besser mitgearbeitet haben sie und auch die Ergebnisse haben gestimmt.

Der verlorene Lehrstoff konnte locker mit dem Lernen fürs Leben kompensiert werden. Das fahle Wort Sozialkompetenz hatte eine neue Dimension erhalten. Und in Geschichte und Naturkunde wurden verständlicherweise neue Schwerpunkte gesetzt.

Das EM-Spiel wird angepfiffen. Italien tut sich anfangs gegen die Türkei schwer. Nun, ich bin kein großer Fußballfan, aber ich lasse mich mitreißen. Ich halte meistens zu den vermeintlich Schwächeren – die sind mir immer sympathischer, speziell wenn sie die Topmannschaften ein bisschen sekkieren.

Na ja, einige Fußballprofis hatten damals für die Bekämpfung des Virus gespendet. Gar einige Stars allerdings nicht oder nur lächerliche Summen. Sie haben trotz Abbruchs der Saison und Absage des Turniers weiterhin Millionen kassiert, während der Hausmeister im Stadion vorläufig entlassen wurde und von der Sozialhilfe grad so leben konnte. „Fair Play“ war das nicht.

Während es im Spiel so ziemlich lustlos hin und her geht, fällt mir auf, dass wir hier zusammen sitzen, schreien, pöbeln ... die meisten für Italien ... als ob in den letzten zwölf Monaten fast nichts passiert wäre.

Dabei hatten wir einen wirtschaftlichen Einbruch wie seit fast 100 Jahren nicht mehr. An der Börse nur Auf und Ab. Konjunktur komplett im Eimer – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest rechnerisch ein Umstand, aus dem man nie heraus kommen würde.

In den Jahren zuvor sind wir bei der geringsten Steuererhöhung auf die Straße gerannt, haben uns furchtbar aufgeregt, wenn auch nur ein Beistrich irgendwo verändert wurde. Rückblickend waren das alles Peanuts ... Sandkörner ... im Vergleich mit dem, was Covid-19 wirtschaftlich angerichtet hat.

Und trotzdem sitzen ich, Franz, Susi, Vroni, Lenz und all die anderen fröhlichen Leute heute hier im Schotzn-Heisl und schauen auf die wichtigste Nebensache der Welt.

Es ist 21:50 Uhr ... weil nachgespielt wurde. Ich verabschiede mich, da ich meiner Frau versprochen hatte, um 10 zu Hause zu sein.
„Pfiat enk!“, rufe ich den anderen zu, „i bin awek ... seg mor ins morgen beim Spiel Wales gegen Schweiz.“

Teil 2 der "Schönen neuen Welt" folgt morgen

Klemens Riegler, 52, aus Bozen, ist Unternehmer für Messe- und Bühnenbau, Veranstaltungstechnik, sowie Musik­kritiker. Den Text hat er für dieses Magazin verfasst, weil er zurzeit viel Zeit zum Nachdenken hat. (Ungekürzte Fassung)

Leserkommentare

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.