Der Journalist hält sich für lasteranfällig, trotzdem kann er auf viele sportliche Höchstleistungen verweisen. Ihre erste ...
Gesellschaft & Wissen
Schöne neue Welt - Teil 4/7
Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020
Wir schreiben das Jahr 2021. Die Coronakrise ist überstanden und hat vieles verändert. Ein nicht ganz ernst gemeinter Blick nach vorne – und zurück von Klemens Riegler. (Teil 4 von 7)
Rein mit dem 80-Zoller, inklusive Standfuß und Antennenkabel, versteht sich. Und ab nach Gries in den inoffiziellen EM-Public-Viewing-Garten von Hannes. Alles klappt wie am Schnürchen. Der TV steht im Nu, Bier und Prosecco sind kalt gestellt, und der Fritz – der Sohn von Hannes und Magda – hat auch schon den Grill von Laub und Dreck befreit. Nicht ganz freiwillig zwar, aber EM-Schauen auf großem Bildschirm macht’s möglich. Sogar zusammen uns „Vecci“.
Magda ruft aus der Küche: „Fri-itz, kannst du bitte Brennholz aus dem Keller holen, weil wir danach auch noch Grillen wollen! Trockenes Brennholz!“ Das Gesicht, die Mimik, die Hände und die Gestik dieses nachpubertierenden Jugendlichen sprechen Bände. Schließlich stapft Fritz murrend in den Keller.
Nun, wir sind ready. 14:35 Uhr, Signal passt, der Sender läuft und meine Frau ist auch inzwischen angekommen. Mit dem Fahrrad, das wir danach in den Bus schmeißen und mitnehmen können. Franz hat nur den Lenz und die Susi mitgebracht. Die anderen treffen sich erst am Abend zum Spiel Belgien gegen Russland im Schotzn-Heisl.
Alle anderen vom Aperitivo sind hier. Einige haben verwertbare Fleischteile mitgebracht, die nach einer Umwandlung von roh zu gar durchaus lecker schmecken dürften. Alex – der Stritzi – meint, dass wir doch schnell noch in seinem österreichischen Heimatfunk diese Sondersendung über die Nachwehen der Coronakrise gucken könnten, während der Sportmoderator einige neue Regeln mit dem Fußballexperten diskutiert.
Wir schalten um. Und tatsächlich, in der Sendung geht es um Klagen und rechtliche Dinge. Deutsche Staatsbürger haben Skiorte in Österreich und Südtirol verklagt. Die Rechtslage sei nach wie vor unklar. In den USA dasselbe Problem. Dort sind die Gerichte seit Monaten mit Fällen beschäftigt, um zu klären wer wen angesteckt hatte, mit den entsprechenden Folgen und Spätfolgen. Oft spielen auch Versicherungen eine Rolle.
Die ganze Sache hat unglaubliche Ausmaße angenommen. Selbst in Italien haben 60-Jährige die Sanitätsbetriebe und Ärzte verklagt, weil ihre Eltern nicht an Beatmungsgeräte angeschlossen wurden. Rechtlich gesehen hatten sie sogar Recht, denn jedem Bürger steht in den meisten Ländern Europas das Recht auf lebensrettende Behandlung zu. Nur waren diese eben nicht immer und überall verfügbar.
In der Lombardei mussten Ärzte zeitweise auswählen, wen sie an eine Beatmungsmaschine anschlossen oder einen Intensivplatz zur Verfügung stellten. Die brutalste Entscheidung, die Ärzte zu treffen hatten, war jene, einen bereits intubierten Patienten wieder von der Maschine zu nehmen und definitiv sterben zu lassen, weil ein jüngerer, gesünderer Patient die größeren Überlebenschancen hatte.
Man ist dann dazu übergegangen, Patienten mit sehr geringer Überlebenschance, gar nicht mehr an die Maschinen zu hängen und lieber das Bett für den nächsten Menschen mit größerem Überlebenspotential frei zu lassen. Im Herbst rollten die ersten Klagen an. Rechtsanwälte forderten Dokumentationen, Abläufe und Erklärungen. Normalerweise alles Dinge, die im Sanitätswesen Pflicht sind, aber in dieser Ausnahmesituation verständlicherweise vernachlässigt wurden.
Klar, es geht ums Geld. Es ist schlicht eine Frechheit, wie heute noch Menschen aus diesem Notstand Kapital schlagen wollen. Es soll Fälle geben, in denen Unsummen an Schmerzensgeld eingefordert werden, etwa für eine an oder mit Covid-19 verstorbene 95-Jährige. Wobei sich solche Klagen eh nur Leute leisten können, die noch finanzielle Reserven haben.
Auch über das müssen wir reden, denk ich mir: Eigenverantwortung, Hausverstand, Vernunft, Ethik, Moral und ähnliche Werte sollten jetzt wieder in den Vordergrund rücken. Das betrifft einfache Bürger ebenso wie Politiker, Anwälte, Staatsanwälte und Richter.
Anpfiff! Wales, dieser kleine eigensinnige Teil Großbritanniens, hat den Ball. Gegen die ebenso kleinen wie autonomen Eidgenossen. Beide sympathische Mannschaften mit gewissen Ähnlichkeiten zu Südtirol. Wales, das sagte mir einmal ein Musiker von dort, bedeute so viel wie fremd. Und wenn du einen aus Wales fragst, was und wer er sei, werde er sich sicher nicht als Brite bezeichnen, sondern mit „I am walsh“ antworten.
Das ist „Celtic“ (keltisch) und klingt ziemlich gleich wie „Walsch“. So nennen wir ein wenig boshaft unsere Italiener. Sie waren uns auch lange fremd. Schon komisch, wie klein die Welt ist, wie Probleme überall immer wieder die gleichen sind.
Gut, die Schweizer hat noch nie jemand wirklich verstanden. Aber auch dieses kleine Land spielt wieder mit bei dieser EM. Schön wäre es, wenn entweder Wales oder die Schweiz die Vorrunde überstehen würde. Zur Pause steht es 1:1.
Beide haben gut gespielt. Na ja, es sind da ja nur wenige hochbezahlte Großverdiener dabei. Wobei auch diese Topstars seit Corona um 30 bis 50 Prozent weniger verdienen als vorher. Die Sponsoren hatten sich in der neuen Spielsaison auch nicht mehr so spendabel gezeigt wie vorher.
Da fällt mir ein anderes Beispiel ein. Ministerpräsident Cronte wollte anfangs mit 10, dann mit 25 Milliarden und schließlich mit 50 Milliarden Italien über die Krise retten. Kein Wunder, wenn auch das nicht gereicht hat. Zum Vergleich: Der Volkswagen-Konzern wies 2019 einen Gewinn von 13,3 Milliarden Euro aus.
Wir Südtiroler haben aufgrund guter Verwaltung, starker Wirtschaft und Schuldenfreiheit Glück gehabt. Das Land hat uns mit 2 Milliarden Euro an Cash und Krediten durch das Coronatal geholfen. Wir stehen jetzt schon wieder besser da als viele Nachbarregionen.
Italien steckt immer noch im Sand fest. Die Milliarden haben kaum geholfen, wurden entweder falsch verteilt oder sind irgendwo verschwunden. Für die einen waren es willkommen Geschenke, für die anderen reichte es kaum zum Überleben. Fußball ist für Italien derzeit ein Grund, die Realität kurz hinter den Vorhang zu schieben. Wir kennen das: Brot und Spiele.
Fritz ruft zum Appell. Das Spiel geht weiter. Kilian bringt flüssigen Nachschub – wir stoßen an. Nicht für Wales oder Schweiz, sondern auf das Leben, auf dass wir hier sind und auf eine gute Zukunft. Es ist schon komisch, wie wir uns hier und jetzt wieder frei bewegen können.
Nein, wir haben uns letztes Jahr nicht daran gewöhnt, aber ein komisches Gefühl ist es trotzdem. Wir waren zwei Monate ziemlich eingesperrt, weitere zwei Monate eingeschränkt. Und bis in den Herbst hinein waren Maskenpflicht und Abstand oberstes Gebot.
Da fällt mir auch diese Bombenentschärfung in Bozen ein – einige Monate vor Corona. Was hat man damals für einen Aufstand gemacht, nur weil in der Umgebung des Verdiplatzes für einige Stunden alles gesperrt werden musste.
Die Menschen in nächster Nähe mussten die Wohnungen verlassen und die außen herum mussten einige Stunden in den Wohnungen ausharren, sofern sie nicht schon vorher das Weite gesucht hatten. Straßen, Autobahn und Eisenbahn waren gesperrt. Man hat danach diskutiert, ob das denn notwendig und angemessen gewesen sei? Einige Stunden!
Altrochè Tage, Wochen, Monate in Coronazeiten. Komplett Lächerlich, rückblickend betrachtet. Das Spiel ist aus.
Wie es ausgegangen ist? Erfahren Sie morgen in Teil 5.
Klemens Riegler, 52, aus Bozen, ist Unternehmer für Messe- und Bühnenbau, Veranstaltungstechnik, sowie Musikkritiker. Den Text hat er für dieses Magazin verfasst, weil er zurzeit viel Zeit zum Nachdenken hat. (Ungekürzte Fassung)
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