Gesellschaft & Wissen

Die übersehenen Opfer

Aus ff 21 vom Donnerstag, den 21. Mai 2020

Roger Pycha
Roger Pycha ist Koordinator des Südtiroler Netzwerkes Psychischer Gesundheit und Primar der Psychiatrie am Krankenhaus Brixen (roger.pycha@sabes.it). © Alexander Alber
 

Die Pandemie verursacht neben direkten Infektionen weitere medizinische Probleme. Sie zermürbt vor allem Männer und ältere Menschen. (Beitrag von Sabine Cagol und Roger Pycha)

Der bekannte Suizidforscher Diego De Leo unternahm von 1990 bis 2000 eine Studie, die genau jenes Gebiet betraf, das bisher am zweitschlimmsten von Covid-19 getroffen wurde. Zehn Jahre lang untersuchte er circa 19.000 chronisch kranke, beeinträchtigte, vereinsamte alte Menschen, psychisch Kranke, die sich nicht behandeln ließen, und Betroffene, die jahre-lang auf eine Aufnahme ins Altersheim oder in soziale Einrichtungen warten mussten – allesamt über 65 – mit einer Gruppe von 20.000 unauffälligen gleich alten Menschen in Norditalien. Die erste Gruppe erhielt zweimal wöchentlich unterstützende Anrufe von Mitarbeitern des Gesundheitswesens. Diese erkundigten sich nach ihrem Befinden, eher oberflächlich. Jedoch konnte diese Gruppe sich jederzeit selber telefonisch bei einer Kummernummer melden.

Der Kontrollgruppe bot man gar nichts an. Allein durch die regelmäßigen Anrufe und durch die Möglichkeit, selbst anzurufen, sank die Suizidrate bei den kontaktierten Frauen auf ein Sechstel. Bei den Männern ergab sich keine statistische Veränderung.

Die Ergebnisse dieser weltbekannten Studie lassen sich direkt auf die jetzige Krisenzeit anwenden. Offenbar schöpfen Frauen viel eher Hilfe aus telefonischen Kontakten. Umgekehrt rufen sie selbst auch viel eher an, wenn sie Hilfe benötigen. Bedürftigkeit nach Beistand erleben sie nicht von vornherein als Schwäche oder Versagen. Das Sprechen mit Fremden empfinden sie als erleichternd, das Anhören ihrer Ratschläge als bereichernd, das Entwickeln von Plänen als Unterstützung. Sie scheuen sich weniger, eigene Schwierigkeiten offenzulegen.

Ein Sprung zurück in die 1980er-Jahre auf die Insel Gotland: Die schwedische Regierung erschrak über die dortige hohe Suizidrate und beauftragte Wolfgang Rutz mit einem Team von Wissenschaftlern, Abhilfe zu schaffen. Er lehrte alle Hausärzte Gotlands, die Symptome der Depression zu erkennen und antidepressive Medikamente lange genug zu verschreiben. Suizide sind zu 40 bis 70 Prozent auf die Krankheit Depression zurückzuführen. Die Suizidrate sank dramatisch – fast nur bei Frauen. Sie kamen zum Hausarzt.
In den 1990ern wandte sich Schwedens Regierung wieder an Rutz, er solle doch auch die männliche Suizidrate senken.

Das Team unternahm diverse Versuche, der erfolgreichste war: Die zum Arzt kommenden Frauen nach der psychischen Gesundheit ihrer Männer zu befragen. Das Bild, das dabei entstand, war präziser als jede Auskunft durch die Männer selbst. In den 1990er-Jahren konnte man auf diese Weise auch die männliche Suizidrate deutlich senken – wegen der Hilfsbereitschaft der Frauen. Und wegen ihrer Auskunftsfreudigkeit über familiäre Befindlichkeiten und Sorgen, besonders dann, wenn sie wissen, dass ihre Informationen von großem Nutzen sein können. Aber auch wegen des fast blinden Vertrauens von Männern, das zu tun, was ihre Partnerinnen ihnen raten – letztlich lieber indirekt verschriebene Tabletten einzunehmen, als selbst zum Arzt zu gehen.

Umgelegt auf die heutige Lage, heißt das, alleinstehenden Männern besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Sie anzusprechen, auch hartnäckig, sie öfter zu kontaktieren, über Telefon, E-Mail, Briefe. Sich besonders bei Älteren nach ihrem Befinden zu erkundigen, und sei es nur oberflächlich. Ihnen nahezulegen, anonyme Telefonhilfen in Anspruch zu nehmen. Ihnen beizubringen, über eigene Empfindungen, Schwächen, Wünsche zu reden – gerade zu Menschen, die nichts von einem wissen, und deshalb unbefangen sind.

Das klingt für viele Männer kitschig. Das ist vielen alten Menschen ungewohnt. Deshalb braucht es beim ersten Anruf viel Zivilcourage. Aber es ist eine Investition: Menschliche Stimmen beruhigen, wenn sie in mittlerer Tonlage schwingen. Sie verbünden, wenn sie flüstern. Sie rühren, wenn sie schluchzen. Die ganze Elektronik kann das nicht wegdividieren, zum Glück.

Bei Schwierigkeiten oder Krisen rufen Sie bitte die Telefonseelsorge 0471 052052 oder die

Notfallpsychologie 366 6209403 an.

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  • Sabine Cagol

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