Gesellschaft & Wissen

Das neue Weihwasser

Aus ff 22 vom Donnerstag, den 28. Mai 2020

Meran
Sehnsucht nach mehr ­Touristen, sonst ­drängen sich unter den Lauben in Meran zu Christi Himmelfahrt die Menschen. „Der ­Tourismus wird sich erholen, aber was ist mit den Menschen, die nichts haben?“ © Georg Mair
 

Dort, wo die Menschen sonst eng zusammensitzen und die Luft steht, trifft man jetzt auf: Leere. Und eine desinfizierte Normalität. Ein Rundgang durch Brixen und Meran.

Matthias Schönweger, 70, steht jeden Morgen vor der Pfarrkirche in Meran. Er begibt sich auf den Platz, um, im wörtlichen Sinn, Kunst zu erstehen.

Er trägt eine Maske, er hat eine knielange Hose an, im Bund steckt eine Spielzeugpistole, den Nagel des linken großen Zehs hat er rot angemalt. Die Fragen, die man ihm stellt, dreht und wendet er so, dass sich daraus ein Hintersinn ergibt.

Wie geht es Ihnen?

Es ergeht sich. Wobei das Ergehen eingeschränkt ist, aber das macht mir nichts, ich bin kein großer Wandersmann. Vieles, was normalerweise ergangen wird, wird bei mir erstanden. Ich erstehe sie, ohne sie zu kaufen.

Von seinem Balkon aus sieht man in den Garten. Der Künstler hat beobachtet, dass uns die Tiere wieder näher kommen – auf einem kleinen Bäumchen am Balkon haben Spatzen ihr Nest gebaut, auf dem Tisch sind zwei Engel aus Blech gelandet, die gen Italien schauen. Auf dem Boden liegt eine Plane, sie zeigt ein Paar, auf die Arbeit aus dem Jahr 1987 hat er einen Zettel geklebt: „Wir nehmen zu.“

Matthias Schönweger hat in den vergangenen Wochen viel gearbeitet, unter anderem viele Haikus geschrieben, Gedichte, die einem präzisen Bauplan folgen, sie türmen sich neben seinem Notebook in seinem Schreibstübchen. Manchmal zieht er sich auch in einen seiner Bunker zurück, die er vom Land gekauft hat.

Die Fahrt nach Meran und Brixen ist die erste berufliche Ausfahrt seit Anfang März. Damals mit dem Zug nach Stuttgart: Auf der Rückfahrt am 7. März volle Züge, Touristen, die sich im Abteil drängen, um noch nach Tirol in den Skiurlaub zu kommen. Keine Maskenträger. Jetzt sieht man an den meisten Menschen nur mehr die Augen, manche zeigen Nase, einige die Schutzmaske am Kinn, als wollten sie sagen: Ich bin keiner, der sich unterwirft, ich bin so frei, dich anzustecken.

Jetzt ist die Welt sozial distanziert. Alle drei Treppenstufen auf dem leeren Bahnhof in Bozen ein grüner Strich, der davor warnt, dem anderen zu nahe zu kommen. Kleine Kreise mit gesetzeskonformem Abstand auf dem Bahnsteig: Wenn wir stehen wie befohlen, stehen wir in Reih und Glied. Sonst drängen sich hier zu Christi Himmelfahrt die Touristen. Im Zug die Sitze nach Schachbrettmuster getrennt, nicht einmal beim Ein- und Aussteigen dürfen die Passagiere sich in die Augen schauen. Wie tut man jetzt, wenn man mit jemandem näheren Kontakt aufnehmen wollte? Fragt man, wo hast du die schöne Maske gekauft? Bei der Recherche fahren mit: Tonband, Block, Kugelschreiber – und Maske (plus Ersatzmaske) und Desinfektionsmittel. Die Stimme hinter der Maske hört sich dumpf an, man kann nicht mehr im Gesicht des Gesprächspartners lesen. Man muss in den Augen lesen lernen.

Was ist das für ein Land nach dem Lockdown?

Donnerstag und Freitag vergangene Woche. In Brixen und auch in Meran braucht es keine Polizisten, die Ansammlungen auflösen. Es gibt keine „assembramenti“, die Züge sind fast leer. Jetzt, wo sie nicht da sind, sehnt man sich nach den Touristen, die die Städte überrennen, aber gleichzeitig lebendig machen. Die Menschen im Zug und auf der Straße schauen ernst, angespannt. Fragezeichen. Optimismus ist, denkt man, wenn in Brixen das Tourismusbüro geöffnet ist.

Von dort, vom kurvigen Neubau des Architektenpaars Attia & Scagnol sind es nur ein paar Schritte bis zur Hofburg. Die Hofburg mit dem Diözesanmuseum ist jetzt ein sicherer Ort. Man ist dort allein, mit Altären, Kreuzen und Heiligenbildern, mit der Pietà von Karl Plattner, mit Egger-Lienz, Franz Defregger und den Werken von Peter Fellin, die das Museum in einer Sonderausstellung zeigt. Hier kann man sich sogar die Maske abnehmen. Peter Fellin, der Knurrige, denkt man, hätte sich bestimmt lange überlegt, ob er mit seiner Arbeit einem Virus nachlaufen soll.

Schiebt man den Vorhang an einem der Fenster im Raum mit der Südtiroler Moderne (nicht viele Arbeiten, aber immerhin) ein wenig beiseite, sieht man auf den baumlosen Hofgarten. Ein Beleg, denkt man sich, nicht für den Mut, nicht einmal für den Übermut, sondern für den Hochmut einer Stadtverwaltung, die für zehn Millionen Euro den Garten umgestalten will und für diese Arbeit schon anderthalb Millionen Euro für den Gartenkünstler Andrè Heller genehmigt hat. Das Land ist nach Corona wie vor Corona: großprojektig.

Anna Heiss, die Leiterin der Dekadenz in Brixen, sagt: „Die Stadt spricht Andrè Heller anderthalb Millionen Euro zu, während die lokale Kulturszene elendiglich zugrunde geht.“ Die letzte Premiere in der Dekadenz fand am 1. März statt, wann die nächste im Keller sein wird, weiß sie nicht. „Wir wissen nicht“, sagt sie, „ob wir mit den Sicherheitsbestimmungen dort überhaupt spielen können.“ Normalerweise sitzen dort die Menschen eng zusammen, essen und trinken, die Luft steht. Mit den Sicherheitsbestimmungen, wie das Land Südtirol sie vorsieht, könnte man 25 Stühle in dem Keller unterbringen.

Das Land Südtirol unterstützt Kulturschaffende einmalig mit 600 Euro, damit kann sich ein Single vielleicht einen halben Monat lang ernähren. „Man horcht uns auf“, sagt Heiss, „aber man merkt, dass die Kultur in den Prioritäten weit hinten liegt. Aber wir sind auch selber schuld, weil wir nicht organisiert sind.“ Folgen der Notlage jetzt auch noch Kürzungen der Beiträge des Landes? „Es ist zu befürchten, zehn Prozent stehen im Raum.“ Das wären für die Dekadenz 25.000 Euro, eine kleinere Theaterproduktion.

Der Kutscherhof neben der Hofburg, in dem das Gespräch mit Anna Heiss stattfindet, ist leer. Leer wie der Domplatz, über den zwei Soldaten in Kampfmontur streifen, wie der Dom, der von zwei Säulen mit Desinfektionsmitteln bewacht wird (das Desinfektionsmittel ist das neue Weihwasser), in den bei einer Messe nur 108 Menschen gelassen werden und in dem auch die Beichtstühle leer bleiben – dank Corona vergibt die Kirche Sündern jetzt die Sünden, ohne dass man persönlich vorsprechen muss.

Gegenüber dem Dom reiht sich Stuhl an Stuhl in den Bars, hier sitzen fast nur zwei ältere Damen, die (hüllenlos im Gesicht) miteinander parlieren, während ein Junge sich auf dem Stuhl krümmt und wischt. Gut eine Stunde später sitzen sie immer noch da, der Veneziano ist leer. Ist es noch der gleiche? Der Barbetreiber beschäftigt im Moment vier seiner elf Angestellten.

Um Michael Falk, Juniorchef im Hotel Elephant, und seine Mutter Elisabeth Heiss zu treffen, muss man läuten. Das 4-Sterne-Haus öffnet erst am 12. Juni wieder. Es ist seit 24. Februar geschlossen, damals begannen die Betriebsferien, danach war Lockdown. 20 Mitarbeiter, die das ganze Jahr im Hotel und in den Restaurants beschäftigt sind, befinden sich im Lohnausgleich – der Betrieb streckt ihnen die gut 1.000 Euro im Monat vor, acht Saisonkräfte beziehen Arbeitslose. „Die Stammgäste wollen kommen, aber wir wissen nicht, was auf uns zukommt, man spürt eine gewisse Unsicherheit und Unruhe“, sagt Elisabeth Heiss.

Wir sitzen im Garten des „Hotels“, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Raunzen des Rasenmähers. Hier drehte Matthias Falk während des Lockdown seine Joggingrunden. 69 Betten hat das Haus, zwei Restaurants (darunter die „Apostelstube“ mit einem Stern). „Der schlechteste Fall“, sagt Matthias Falk, „sind 60 Prozent Minus in diesem Jahr.“

Auf dem Wochenmarkt in Meran, an diesem Tag ein trostloser Ort, steht das Minus in den Gesichtern der Händler. Im Gesicht der Frau, die Hemden verkauft (17 beziehungsweise 22 Euro das Stück), die bis 12 Uhr mittags nur ein Hemd verkauft hat, im Gesicht des Mannes, der am Vormittag keine einzige Jacke losgeworden ist. Auf den Märkten, sagt der Mann, habe er in dieser Woche zwischen 30 und 50 Euro Umsatz am Tag gemacht.

Auf Plakaten bedankt sich die Gemeinde Meran bei den Bürgern für ihre Mitarbeit. In den Hallen der Gemeinde unter den Lauben wird Normalität simuliert, eine desinfizierte Normalität. Bürgermeister Paul Rösch hat in der Krise fast jeden Tag virtuell den Stadtrat einberufen, denn in Meran gibt es nicht nur die Opposition, sondern auch die Opposition in der Mehrheit. Rösch sagt, der Tourismus werde sich erholen, Geschäftsleute, die keine Miete zahlen müssten, würden überleben. „Aber es gibt Menschen, die Hunger haben. Viele sind auf der Strecke geblieben.“ Er sieht, dass auch Einheimische zur Lebensmittelausgabe kommen, er will, dass diese Menschen nicht untergehen im Geschrei der Parteien, die jetzt alles und sofort wollen.

Am Ende des Rundgangs durch Brixen klopfe ich an die Tür der Theologischen Hochschule. Alexander Notdurfter, der Dekan, holt mich an der Pforte ab. Er fragt sich in diesen Tagen häufig, ob sich etwas geändert hat. Er sei skeptisch, sagt der Pastoraltheologe, wenn er den Satz höre: Es wird nie wieder so sein wie vorher. „Es ist nicht entschieden, ob diese Zeit etwas nachhaltig verändert hat, wenn man gewisse Dynamiken beobachtet – es ist eine Dynamik des Nachholenwollens.“

Auf dem Rückweg von Meran ist der Zug fast leer, kein Stimmengewirr wie sonst oft. Man kann also noch ein paar Reihen weiter hören, wie eine ältere Frau am Handy ihr Leben ausbreitet: „Ich habe nur mehr 7.500 Euro am Konto, 5.500 brauche ich für ein Hörgerät. Wer hilft mir jetzt?“

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