Gesellschaft & Wissen

Augen auf und zuhören

Aus ff 25 vom Donnerstag, den 18. Juni 2020

Kundgebung am Waltherplatz
Kundgebung am Waltherplatz in Bozen: Rassismus muss in die Medien, gerade in die lokalen. © Archiv
 

Auch in Südtirol ist Rassismus an der Tagesordnung. Das gehört thematisiert. Doch hören wir denen zu, die ihn täglich erleben.

Ein Gastkommentar von Oumar Kande, F.L., Adrian Luncke:

Am 10. Juni: Anruf aus der ff-Redaktion. Es ist der Tag, an dem die Trauerfeier für George Floyd in der ganzen Welt live übertragen wird. XY, ein weißer Mann, hat mich der Redaktion für einen Gastbeitrag empfohlen. Es soll darum gehen, ob es Rassismus auch in Südtirol gibt.

Erster Gedanke. Das Anliegen löst bei mir Bestürzung aus: Ich, ein weißer Mann, bin dafür kaum der richtige Ansprechpartner. Warum sollte sich jemand zu den Auswüchsen jahrhundertelanger Unterdrückung äußern, die er selbst gar nicht erfahren kann? Zweiter Gedanke. Das Thema ist viel zu groß für gut 8.000 Anschläge und schwer greifbar. So lässt sich zwar nachzählen, wie viele Beleidigungen, Übergriffe und Diskriminierungen gemeldet werden. Doch abweisende Blicke, üble Nachrede, unfaire Darstellungen, vorurteilsbehaftete Menschenbilder lassen sich kaum nachweisen oder gar zur Anzeige bringen – einmal abgesehen davon, dass nicht jede*r Betroffene solche Schritte auch unternehmen möchte. Und darüber hinaus gibt es in Südtirol bis heute keine Meldestelle, die Rassismus auch nur ansatzweise erfassen würde. Ein Blick ins nahe Österreich, da hat die Anlaufstelle ZARA im März den Rassismus-Report 2019 veröffentlicht, könnte helfen, oder auch der Rückgriff auf die persönlichen Erfahrungen derjenigen, die tagtäglich Rassismus erleben.

Eines ist klar, Rassismus muss in die Medien, gerade auch in die lokalen. Doch schwarze Menschen oder People of Color treten da kaum als Autor*innen in Erscheinung.

Deshalb antworte ich der ff nur zögerlich: „Ich muss mich erst mit ein paar Personen kurzschließen, die wirklich was zum Thema zu sagen haben.“ Nach einigen Telefonaten und WhatsApp-Nachrichten macht Oumar mit. Er ist 30 und lebt seit 5 Jahren in Bozen, wo er als Quereinsteiger meist in Sozialeinrichtungen arbeitet. Ich, Adrian, 10 Jahre älter, bin zur gleichen Zeit wie Oumar nach Bozen gezogen und arbeite bei der OEW heute ebenfalls im Sozialen. Im Gegensatz zu mir ist Oumar schwarz. Auch F.L. ist sofort bereit, ihre Erfahrungen mit denen von Annelies zu vergleichen. Wie ihr etwas ältere Gegenüber ist F.L. vor Jahren nach Brixen gezogen. Im Unterschied zu Annelies trägt sie, wenn sie das Haus verlässt, ein Kopftuch.

Wir wollen also als Koautor*innen den Text für ff liefern. Doch (wie) lassen sich Lebenserfahrungen vergleichen? Dann, in den Abendstunden, erinnern wir uns an das neue TikTok-Video. Ein Paar, Stephen „tWitch“ Boss und Allison Holker, spürt darin seinen Privilegien nach. Privilegien, also Vorrechte oder auch Vorteile, stehen neben Vorurteilen und Macht im Zentrum aktueller antirassistischer Theorien. Der Ansatz könnte also passen. Zu unserer Konstellation als Koautor*innen passt außerdem, dass Stephen schwarz, Allison weiß ist.

Das Video folgt einem einfachen Prinzip: Stephen und Allison werden Fragen gestellt. Trifft eine Aussage auf sie zu, beugen sie einen ihrer 10 Finger. Die Finger, die am Ende ausgestreckt bleiben, stehen für die Privilegien, die sie jeweils haben. Die Fragen aus dem Video sind schnell aufgeschrieben und – den ZARA-Bericht mit seiner Einordnung von Rassismus in verschiedene Lebensbereiche im Kopf – werden ein wenig angepasst.

Mit ihnen wollen wir überprüfen, ob es auch in Südtirol Rassismus gibt – im öffentlichen Raum, im Internet, in Politik und Medien, in der Arbeitswelt, beim Wohnen und in der Nachbarschaft, ob er auch hier durch Polizei, staatliche Behörden und Institutionen ausgeübt und ob er auch beim Einkaufen und beim Nutzen von Dienstleistungen erlebt wird. Zu jedem dieser Bereiche formulieren wir mehrere Fragen. Zunächst erhalten Oumar und Adrian ihr Fragenpaket. Sie sollen mit Ja/Nein antworten und die Fragen kurz kommentieren.

Keine zwei Stunden später hat Oumar seine Antworten mit 6.000 Zeichen formuliert. In objektiver Sprache, seine Erfahrungen schildernd. Manchmal wünscht er sich Veränderungen im Zusammenleben in Südtirol. So schreibt er, damit sind wir wieder bei George Floyd und der Polizei, etwa: „Als schwarze Person fühle ich mich in Bozen nicht sicher. Und auch von der Polizei fühle ich mich nicht geschützt. Vor einiger Zeit traf ich mich mit zwei schwarzen Freunden. Wir waren zum Abendessen bei Bekannten eingeladen und liefen ein Stück die Talfer entlang. An einer Stelle für Fußgänger*innen – ein großes Schild weist hier darauf hin, dass Hunde an der Leine zu führen sind – gingen auf einmal mehrere Hunde, wild bellend, auf uns los. Einer meiner Freunde bekam Angst. Denn die Hundebesitzer*innen machten keinerlei Anstalten, die Tiere zurückzuhalten. Um sich nicht beißen zu lassen, machte er Bewegungen mit den Füßen. Die – mittlerweile drei – Hundebesitzer*innen dachten wohl, einer ihrer Hunde sei getreten worden. Sie begannen, uns wüst zu beschimpfen.“

Es sind Beschimpfungen, die sich auch auf Hautfarbe beziehen, auf vermeintliche kulturelle Unvereinbarkeit, die sich sicherlich einprägen, zu Stress führen, Menschen nachts nicht schlafen lassen und keine weitere Verbreitung durch die Medien finden sollten! An jenem Abend an der Talfer ruft Oumar geistesgegenwärtig die Polizei. Sie kommt. Oumar stellt sich vor, informiert die Beamt*innen, dass er sie gerufen habe und wird abgewiesen. Denn die Personen in Uniform wollen zunächst mit den weißen Aggressor*innen sprechen. Am Ende nehmen sie die Daten aller Anwesenden auf, ein Bußgeld etwa für das Laufenlassen von Hunden, wo dies eigentlich verboten ist, wird nicht verhängt. Adrian gleicht seine Erfahrungen mit denen von Oumar ab. In 5 Jahren Südtirol: keinerlei Erfahrungen mit der Polizei.

Oumar beschreibt ein weiteres Erlebnis: „Einmal hatte ich mich elegant gekleidet: Hemd und Jackett. Ich fühlte mich super, bis ich von der Polizei kontrolliert wurde. Ihre Spürhunde schnüffelten an mir herum, als sei ich ein Drogendealer, während ich mich ausweisen musste. Nach circa einer halben Stunde durfte ich weitergehen.“

Auch Annelies und F.L. bekommen ihre Fragen. F.L. kennt Oumars Erfahrungen nicht, schildert aber ganz ähnliche Vorfälle: „Ich saß am Bozner Bahnhof mit einer Freundin zusammen. Ihre Muttersprache ist Albanisch, sie ist blond. Auf einmal kommt ein Polizist auf uns zu, fragt nach meinen, nicht aber nach ihren Papieren. Dann geht er weiter und kontrolliert all die Personen, die ihm möglicherweiese ausländisch vorkommen.“ Ein Fall von „Racial profiling“, Menschen, die Beamt*innen aufgrund ihres Äußeren verdächtig vorkommen, werden herausgepickt. Rassismus also.

F.L. erklärt: „Selbst wenn eine Person eine der Landessprachen perfekt beherrscht, sich aber anders als die Mehrheit kleidet oder eine andere Hautfarbe als die Mehreit hat, wird sie für eine*n Ausländer*in gehalten und mit Vorurteilen belegt.“ Überflüssig zu sagen, dass Vorurteile meist negativ ausfallen. Wie manche Menschen durch die Quästur behandelt werden, ist wohl jedem*r klar, der vormittags einmal an ihr vorbeigekommen ist. „Unwürdig und respektlos“, so bezeichnet F.L. das Verhalten gegenüber Ausländer*innen. Während man zur Erneuerung des italienischen Passes etwa in einem Wartesaal Platz nehmen darf, lässt die Einwanderungsstelle den Großteil der Ansuchenden vor der Tür warten. Bei Wind und Wetter, stundenlang. Auch schwangere Frauen, Kinder, ältere Menschen.

Wir vergleichen mit Annelies Erfahrungen. Gerade kommt sie von einem Behördengang zurück, als sie Adrian ihre Antworten am Telefon mitteilt: „Das war heute sehr nett da. Aber das ist nicht immer der Fall. Man bekommt schon manchmal zu spüren, wenn ein*e Mitarbeiter*in ungeduldig ist.“ Systematisch diskriminiert fühlt sie sich durch die Behörden aber nicht. Und grundsätzlich geduzt oder beschimpft wird sie von ihnen auch nicht.

Aber eigentlich kennen Anneliese und Adrian schon die Antworten auf die Fragen. Annelies und Adrian sind privilegiert im Gegensatz zu Oumar und F.L. Und dass es Rassismus auch in Südtirol gibt, das wissen wir, wenn wir ehrlich sind, doch alle. Wie mit diesem Problem umzugehen ist, wäre nun folgerichtig die nächste Frage. Dabei folgen wir Jane Elliot, einer weißen, US-amerikanischen Ikone der Antirassismus-Arbeit. Bei einem ihrer Auftritte (Video online) fordert sie ihr vornehmlich weißes Publikum heraus: Wer sein Leben gern mit einer schwarzen Person oder einer Person of Color tauschen würde, solle aufstehen.

Als sich niemand im Saal rührt, herrscht sie die Anwesenden an: Sie wissen also um die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft. Ich frage mich also, warum Sie nichts dagegen unternehmen.

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