2020 war von Corona beherrscht. Es hat alles andere an den Rand gedrängt. Worüber wird 2021 dringend reden müssen. Und wofür es lohnt, mit derselben Kraft zu kämpfen wie gegen das Virus.
Gesellschaft & Wissen
Alles wird gut
Aus ff 01 vom Donnerstag, den 07. Januar 2021
Erna Holzer hat Krebs. Mitten in der Tumorbehandlung hat sie sich mit dem Coronavirus infiziert. Eine Geschichte, die zeigt, wie oft man im Leben stark sein kann.
(Verena Duregger) Erna Holzer liegt unter dem Sauerstoffhelm auf ihrem Krankenbett und blickt in vermummte Gesichter. Eine Anästhesistin erklärt ihr, dass sie auf die Intensivstation verlegt werden muss. Es ist der 27. Oktober 2020 und Zeit, sich zu verabschieden. Holzer wählt die Telefonnummer ihrer Tochter. Sie freue sich auf das Enkelkind, sagt sie ihr, und dass sie kämpfen werde. Dabei ist sie so schrecklich müde.
Wie oft wäre es leichter, sich einfach aufzugeben?
Die ersten Schneeflocken des Winters fallen. Im Ofen knistert das Feuer. Erna Holzer sitzt am Tisch in ihrem Wohnzimmer in Pfalzen. Sie lebt alleine hier, ihr Mann ist nach einem Treppensturz vor 15 Jahren gestorben. Die Kinder besuchen sie oft. Im März wird ihr drittes Enkele zur Welt kommen. „Ich habe immer daran geglaubt, dass ich das noch erleben werde”, sagt sie. Ihre Stimme bricht für einen Moment. Dann fängt sie an zu erzählen. Wie sie vor sieben Jahren beim Hausarzt saß und drei Worte hörte, die endgültig klangen: „Es ist Krebs.” Fachbegriff: multiples Myelom. Eine Krebserkrankung, die von den Plasmazellen des Knochenmarks, also vom Blutsystem, ausgeht. „Die Krankheit ist nicht heilbar”, sagte der Hämatologe bei der Visite in Bozen nur ein paar Tage später, „aber man kann gut damit leben.” Was würde das für ein Leben sein? „Ich konnte das in diesem Moment gar nicht alles aufnehmen, aber heute weiß ich, was er damit gemeint hat.”
Die initiale Chemotherapie verträgt die damals 60-Jährige gut. Auch die folgende autologe Stammzellentransplantation (Erklärung siehe kleiner Infokasten) ihres eigenen Knochenmarks schlägt an. Drei Wochen bleibt sie im Anschluss auf der Hämatologie, bis alle Nebenwirkungen und -erscheinungen im Griff sind. Ein paar Monate später wiederholen die Ärzte das Prozedere.
Sechs Jahre lebt Erna Holzer ein gutes Leben, wie sie später ihrem Arzt sagen wird, das drohende Damoklesschwert lässt sie hängen und beschließt, nicht allzu oft hinaufzublicken. Bis sie im August vor einem Jahr dieses altbekannte Gefühl beschleicht. „Hoppla, es fängt wieder an”, sagt sie, als würde sie über einen Gegenstand sprechen, den sie für einen Moment verlegt hat.
Alles auf Anfang. 26 Mal fährt die mittlerweile 67 Jahre alte Pusterin zur Chemotherapie ins Krankenhaus Bruneck und zur Strahlentherapie nach Bozen. Es ist die Vorbereitung zur erneuten Transplantation von Stammzellen. Aber wegen Covid-19 ist zunächst auf der Hämatologie kein Platz. Ende August dann ist es soweit. Dass die ersten Tage schlimm sind, das weiß sie aus Erfahrung. Aber es wird und wird nicht besser. Ein Krankenhauskeim. Am 22. September, einen Monat später, wird sie entlassen: „Mehr schlecht als recht, aber die Betten fehlten an allen Ecken.” Anfang Oktober bekommt sie Fieber, die Entzündungswerte sind viel zu hoch. Blutvergiftung, zehn Tage Krankenhausaufenthalt. Kaum zurück in ihrer gemütlichen Wohnung zeigt das Fieberthermometer schon wieder erhöhte Temperatur an. Erna Holzer wird ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat sich mit dem Coronavirus infiziert und ist an Covid-19 erkrankt.
Wie viele Schicksalsschläge hält ein Mensch aus?
„Wenn ein Patient gerade erst aus diesem Behandlungsmarathon kommt, mit einem nach unten gefahrenen Immunsystem, dann ist eine Infektion mit Covid-19 eine riesige Belastung für den Körper”, sagt die behandelnde Internistin. Die Folgen sind gravierend. Das Atmen fällt Erna Holzer schwer. Sie bekommt einen Sauerstoffhelm. Aber es geht von Tag zu Tag schlechter. In diesem Moment beginnt alles zu verschwimmen, aber an den Satz der Intensivmedizinerin erinnert sie sich, als hätte sie ihn gerade eben erst gehört: „Wir müssen Sie auf die Intensivstation nach Bozen verlegen.“
Eine derart geschwächte Patientin mit dieser Vorerkrankung zu intubieren, ist auch für Ärzte keine leichte Entscheidung. Aber Erna Holzer hat gezeigt, dass sie schon Schlimmeres überstanden hat. „Wir haben zum Glück eine Intensivversorgung auf hohem Niveau”, sagt die Internistin. Und zu dem Zeitpunkt auch noch genügend Kapazität. Sie sei nicht jemand, der schnell in Tränen ausbricht, aber als die Patientin kurz vor dem Intubieren ihre Tochter anruft, um sich von ihr zu verabschieden, für den Fall, dass sie nicht mehr aufwachen sollte, da hält es die Medizinerin im Raum nicht mehr aus: „So etwas vergisst man nicht mehr.”
Den Ort, an dem Erna Holzer die nächsten neun Tage verbringen wird, kennt sie nur von Bildern aus der Zeitung. Die behandelnden Ärztinnen und Pfleger reden ihr gut zu, richten Grüße der Familie aus, wird man ihr später erzählen. Was ist Traum? Was ist Wirklichkeit? Sie träumt, dass sie es nicht schafft zu sterben. Dass sie aus Schokoladenpapier kleine Knäuel formt und gegen die Wand schmeißt. Dass man ihr deshalb die Maschinen abstellen will. Zwei Tage sind besonders kritisch. 48 Stunden zwischen Leben und Tod. Die Ärzte ziehen alle Register, drehen Erna Holzer auf den Bauch, dann bringen sie sie wieder in Rückenlage.
Dann passiert das, was Covid-19 so schwer greifbar macht. So schnell die Krankheit den Körper außer Kraft setzt, so plötzlich kann sie nachlassen. Die Patientin ist über den Berg. Zwei Tage bleibt sie in Bozen, dann geht es auf die Reha-Abteilung in Bruneck. Die ersten Tage ist sie völlig auf die Hilfe der Krankenschwestern angewiesen, selbst ein Löffel wiegt schwer wie Blei. Alles fühlt sich zäh an. Zögerlich wagt sie kleine Schritte. Einen Moment aufrecht sitzen. Um ein Glas Wasser bitten. Die Fäuste ballen. Am 20. November fällt der Corona-Test zum ersten Mal negativ aus. Mittlerweile weiß Erna Holzer, dass sie ihre schwangere Tochter angesteckt hat. Zum Glück ist alles gut gelaufen.
Seit sieben Jahren ist Krebs ein mehr oder weniger sichtbarer Begleiter in ihrem Leben. Dann kam Corona, und es war, als hätte sie in sieben Wochen noch einmal alles erleben müssen. Auf dem Tisch breitet Erna Holzer Arztbriefe aus. Sie versteht nicht alles, was darin steht. Aber es ist ein Halt, eine Zeit festzumachen, die nichts anderes ist als eine Lücke. Auf der Bank liegt eine Schuhschachtel voller Medikamente. Die Tumorbehandlung ist im Moment abgeschlossen. Nur die dünne Sauerstoffkanüle um den Hals und das pumpende Geräusch des Sauerstoffkanisters erinnern noch an die Folgen von Corona. „Bald werde ich das nicht mehr brauchen.”
Was war eigentlich ihr letzter Gedanke, bevor das Narkosemittel wirkte?
Erna Holzer lächelt. „Ich habe noch allerhand zu tun”, sagt sie und nimmt das Strickzeug in die Hand. Das Enkelkind wird Patschlan brauchen.
Wie oft kann man im Leben stark sein?
Sehr oft, sagt Erna Holzer.
Covid-19 und die Vorerkrankung:
(vd) Nach bisherigem Erkenntnisstand kommen schwere Verläufe von Sars-Cov-2 vor allem bei Risikogruppen vor. Neben dem Faktor Lebensalter (je älter, umso gefährdeter) sind Vorerkrankungen entscheidend. Dazu gehören Grunderkrankungen wie Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Erkrankungen des Atemsystems, von Leber und Niere, ein geschwächtes Immunsystem und Krebserkrankungen. Auch Risikofaktoren wie starkes Übergewicht, hoher Blutdruck und Rauchen wirken sich auf den Krankheitsverlauf aus.
In der Altersgruppe der 60- bis 80-Jährigen weisen mehr als drei Viertel der Bevölkerung eine Vorerkrankung auf (Bundesgesundheitssurvey 1998). Gute Gesundheits- und Sozialversorgung ermöglichen jedoch, dass die Lebensdauer und -qualität dadurch nicht allzu sehr beeinflusst wird. Ärzte sprechen in diesem Zusammenhang oft von „kompensierten” Vorerkrankungen. Mit anderen Worten: Selbst das Vorhandensein mehrerer Vorerkrankungen muss nicht immer lebenslimitierend sein. Bei Ressourcenknappheit, etwa, wenn Krankenhäuser dem Patientendruck nicht mehr standhalten, wird jedoch dem gesündesten Patienten Vorrang gegeben, weil dieser größere Überlebenschancen hat.
Autologe Stammzellen-transplantation
(vd) Bei der autologen Stammzellentransplantation ist der Patient sein eigener Spender. Zuerst werden ihm Blutstammzellen aus einer Vene entnommen und aufbereitet, die Tumorzellen werden herausgefiltert („purging”). Dann erhält der Patient eine myeloablative hochdosierte Chemotherapie, wodurch die restlichen sich noch im Knochenmark befindlichen Krebszellen zerstört werden. Schließlich werden die vorher entnommenen Stammzellen dem Patienten wieder zugeführt.
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