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Aus ff 15 vom Donnerstag, den 15. April 2021
Im Therapiezentrum Bad Bachgart wird Menschen mit psychischen Erkrankungen wieder zurück ins Leben geholfen.
Muansch haint geat’s besser?“, flüstert Marina. Ruma blickt die braunhaarige Patientin mit großen Kulleraugen an. Dann beginnt sie, neben dem Mädchen herzutrotten. Angeführt wird die Truppe von Karla, Susi, Mayo und Wirbel. Die fünf wolligen Begleiter sind jedoch nicht Patienten in Wintermänteln wie Marina, sondern Lamas. Das Zwitschern der Vögel begleitet die Truppe auf ihrem Rückweg. Das Kneippbecken vor dem Therapiezentrum markiert das Ende des Morgenspaziergangs.
Dieses Kneippbecken erzählt von der Vergangenheit des Therapiezentrums Bad Bachgart. Vor gut 120 Jahren wurde dort ein Badegasthaus erbaut und später zu einem Therapiezentrum umfunktioniert. Seit 2001 werden hier Patienten mit stoffgebundenen und nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten behandelt – von Sucht nach Medikamenten, Alkohol, Drogen oder Glücksspielen. Auch Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Essstörungen wird hier geholfen.
Bevor Lama Ruma sich auf die Koppel zu den Alpakas und Pferden gesellt, wird es von Marina mit einem frischen Apfel belohnt. Um ihr Therapietier am Kopf zu streicheln, muss sich die 18-Jährige auf die Zehenspitzen stellen. Das weiße Lama stupst die blaue Jacke der Patientin an und schnaubt ermutigend.
Marina zieht aus ihrer selbst genähten Umhängetasche ein gelbes Wochenheft heraus. Bunt reihen sich die Therapieeinheiten der nächsten sieben Tage untereinander an. Ihr Blick fällt auf Montagmorgen. Ein grüner Kasten umrahmt den anstehenden Telefondienst. In Violett darunter die Therapieeinheit des Vormittags. Um 10 Uhr findet jede Woche das Gruppengespräch statt.
Freundlich begrüßen sie ihre Mitpatienten und die Psycho-theraupeutin Magdalena Schroffenegger im Therapiezimmer. Die Runde beginnt mit der Vorstellung einer Burnout-Patientin, jeder in der Gruppe stellt kurz sich und seine Probleme vor. Marina räuspert sich, zögert einen Moment und schildert dann ihren Krankheitsverlauf.
Seit mehreren Jahren leidet die Berufsschülerin an Depressionen und Angststörungen. Anfangs suchte sie Hilfe bei einem ambulanten Psychologen. Nachdem es ihr kaum besser ging, versuchte sie es bei zwei weiteren Therapeuten – nicht immer führt eine ambulante Therapie zum Erfolg. Marina wusste vom Therapiezentrum Bad Bachgart, wollte sich aber nicht eingestehen, wie schlecht es ihr wirklich ging.
Dann kam der psychische Tiefpunkt für die 18-Jährige. Sie kam nicht mehr aus dem Bett und aus dem Haus, ging nicht mehr zur Schule. Die Fehlstunden häuften sich und Marina drohte, nicht versetzt zu werden. Marina und ihre Mutter konnten nicht mehr. Muss ich zuschauen, fragte sich die Mutter, wie das Leben an meiner Tochter vorbeizieht? Das war der Moment, dass sich Marina für eine Therapie in Bad Bachgart entschied. Nach drei Wochen schon besserte sich ihr Zustand.
Marina erinnert sich an ihre erste Nacht im Therapiezentrum: „Na, i kear iaz um, i bleib nit do“. Sie fand nicht zur Ruhe, hatte Angst und wollte wieder heim. Mitpatienten, die ihr noch völlig fremd waren, halfen ihr, das Heimweh zu überwinden. Sie machte schnell Fortschritte.
Ihre Therapeutin Magdalena Schroffenegger sah, wie sie -wieder lächeln lernte.
Seit Mai 2018 ist die 34-jährige fester Bestandteil des professionellen Teams aus Ärzten, Pflegern, Sozialassistenten, Ergo- und Psychotherapeuten. Insgesamt beschäftigt die Einrichtung 50 Mitarbeiter. Gemeinsam sorgen sie für 65 Patienten und Patientinnen.
Magdalena Schroffenegger hat hier schon während ihrer zehnjährigen Ausbildung zur Psychologin und Psychotherapeutin als Praktikantin gearbeitet. Die Arbeit gefiel ihr. Hier, sagte sie sich, will ich einmal arbeiten. Sie sah die Kaninchen über die Felder hüpfen, sie dachte sich: „Wia idyllisch isch des do!“. Heute trennen die Psychotherapeutin anderthalb Stunden von ihrem Arbeitsplatz. Die langen Autofahrten helfen ihr, bei lauter Radiomusik den Tag zu verarbeiten: die hohen Selbstansprüche, aufkommende Emotionen und belastende Schicksale.
Um einen Therapieplatz in Bad Bachgart zu bekommen, muss man volljährig sein, als einzige Ausnahme gelten minderjährige Patientinnen und Patienten mit Essstörungen, für die es schon ab 15 eine Therapiemöglichkeit gibt. Bei Sucht-erkrankungen muss vor der Aufnahme ein Entzug stattfinden. Durchschnittlich dauert ein Aufenthalt sechs bis acht Wochen, er kann auf bis zu 12 Wochen verlängert werden.
Gemeinsam ist allen Patienten, dass sie freiwillig hier sind. Sind sie stabil, dürfen sie auch Besuche empfangen oder ein Wochenende zu Hause verbringen. Das hilft, das Gelernte in der Wirklichkeit zu erproben und Probleme zu erkennen. Auch Marina hat schon ein Wochenende zu Hause verbracht. Nach tagelanger Vorfreude wollte sie, zu Hause angekommen, am liebsten gleich wieder zurück nach Bad Bachgart. Sie vermisste ihre Mitpatienten und Therapeuten. „Eigentlich schun ironisch“, erzählt sie und lacht.
Marina nimmt einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche und folgt ihrem Magenknurren in den Speisesaal zum Mittagessen. Die kichernden Köchinnen schöpfen dampfende Speisen auf die Teller. Der Duft von heißer Kürbissuppe und knusprigen Bratkartoffeln liegt in der Luft. Marina nimmt die Röstis mit Forellenfilet und Karottengemüse. Mit ihrem gefüllten Teller bahnt sie sich vorsichtig einen Weg zwischen Tischen und Stühlen in Richtung Fensterfront. Die Patientin hält Ausschau nach ihrem Platz und findet ihr grünes Namensschild.
Bunte Patientenbilder schmücken die Wände des lichtdurchfluteten Raumes. Es herrscht reger Betrieb, nach und nach füllen sich auch die letzten Tische. Marina spricht und spaßt mit ihren Mitpatienten – einige sind neu, einige schon am Ende ihres Aufenthalts. Zu hören sind Wortfetzen, das Klappern der Gabeln und das Rücken von Stühlen.
Von der Küche ist es nicht weit in den Gemeinschaftsraum. Um 13 Uhr beginnt die wöchentliche „Hausgruppe“, die Patientinnen und Patienten haben sich schon alle auf den türkisen Sofas und die Stühle verteilt. Hier werden sie über Neuerungen informiert und können Anregungen und Kritik deponieren. Es wird fleißig geflüstert, Gespräche auf Deutsch und Italienisch sind zu hören. Roman, medikamentenabhängig und seit vier Wochen in Bad Bachgart, hätte zum Beispiel beim Filmabend am Wochenende gerne eine Komödie im Programm. Ein blonder Junge, der lässig an der Kaffeebar sitzt, übersetzt für die italienischsprachigen Patienten.
Der Leiter von Bad Bachgart, Martin Fronthaler, verabschiedet die Patienten, die ihre Therapie abgeschlossen haben, und teilt den Neuen ihre Aufgaben zu: Telefon- und Stalldienst, Wäschedienst, Gartenarbeit, Speisesaal und Kaffeebar. Die Dienste geben den Patienten Struktur im Alltag.
Marinas gelbes Heft schickt sie in die Werkstatt zur Kunsttherapie. Die Farbspritzer auf den Wänden sind Spuren von kreativen Arbeiten. Vom Ergo- und Kunsttherapeuten bekommt sie als Aufgabe für die heutige Stunde: Male dein zukünftiges Ich für die Zeit nach Bad Bachgart.
Marina greift zu Pinsel und Farbe und versucht, ihre Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen. Warme Töne dominieren ihr Bild; sie hat wieder Zuversicht und Kraft für die Zukunft gewonnen. Dann steht der letzte bunte Punkt in ihrem gelben Heft an: die Tanztherapie in der Turnhalle. Bei ausgefallener Musik und instinktiven Bewegungen lässt sie Gefühlen freien Lauf. Für Marina ist diese Stunde eine der wichtigsten am Tag: „Do konnsch volle verruckt sein, und des tuat richtig guat, du konnsch olls ausilossn und am Ende denki mr olm: Des isch Therapie, des isch wirklich Therapie!“
Die Tanztherapie ist einer von vielen Bausteinen, die das Behandlungskonzept Bad Bachgarts ausmachen. Sie gehört neben der Kunst-, Tier- und Körpertherapie zu den nonverbalen Therapieformen, wie auch die Ergotherapie. Hier haben die Patienten die Möglichkeit, sich frei in den Werkstätten des Zentrums an Holz, Ton und Farbe auszuprobieren. Die verbale Therapie hingegen stützt sich auf Einzel-, Familien-, Paar- und Gruppengespräche.
Darüber hinaus wird den Patienten auch eine Reihe an psychologischen Trainings angeboten. Dazu zählen beispielsweise Entspannungstechniken oder die Arbeit an sozialen Kompetenzen. Fähigkeiten wie Durchsetzungsvermögen, die eigene Meinung zu sagen, und das Selbstwertgefühl werden gestärkt. Neben den Therapiebausteinen wird in Bad Bachgart die Gemeinschaft großgeschrieben. Austausch und das Gefühl, verstanden zu werden, unterstützen die Patienten auf ihrem Weg.
„I hon mi glei sou willkommen gfühlt, als war i in a groaßer Familie, wo man mit jedem reidn konn“, erinnert sich Marina. Das abendliche Ritual, ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mit ihren Mitpatienten ließ sie sich selten entgehen. Danach, vor dem Zubettgehen, hielt sie oft noch einmal inne und schaute auf das, was bunt eingerahmt in ihrem Zimmer an der Wand hing. Die Sprüche handelten von Herausforderungen, Träumen und Zielen. „Es lebe das Leben“, lautete einer der Sprüche, Dann schaute sie noch einmal aus dem Fenster, ließ ihren Blick über die eingezäunten Wiesen schweifen.
Einmal, da sah sie Ruma auf der Koppel. Die Lamadame graste friedlich vor sich hin. Marina beobachtete sie ruhig. Ruma blickte auf, Marina lächelte.
Text und Fotos: Patrizia Thaler und Julia Mitterer
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Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis (ein Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, der Bildungsdirektion des Landes Südtirol und des Bildungsausschusses der Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol. In vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-Reporter Gabriel Grüner, der 1999 kurz vor Ende des Jugoslawien-Krieges im Kosovo von einem russischen Söldner ermordet wurde.
In dieser Ausgabe bringen wir die Reportage von Patrizia Thaler (18, aus Martell, rechts) und Julia Mitterer (17, aus Kastelbell, links) von der 4. Klasse des Sprachengymnasiums in Schlanders. Patrizia möchte nach der Matura Psychologie studieren, Julia Medizin. Julia meint: „Der Workshop hat mich in meinem schriftlichen Ausdruck weitergebracht.“ Patrizia sagt: „Es hat mir Spaß gemacht, in die Welt des Journalismus hineinzuschnuppern. ff druckt in den kommenden Ausgaben die Reportagen, die bei den Workshops entstanden sind.
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