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Kultur
Der Alpenrebell
Aus ff 32 vom Donnerstag, den 09. August 2018
Hans Haid ist Volkskundler, Mundartdichter und Alpenforscher. Der 80-Jährige ist einer, an dem man sich reiben kann.
Ein langer Holztisch, zu beiden Seiten Holzbänke ohne Lehnen, rundherum Regale, die bis zur Decke reichen. Sie sind mit Ordnern, Büchern und Schachteln gefüllt. Wie auch sollte das Arbeitszimmer eines eifrigen Sammlers von Dokumenten, Schriften, Ton- und Bildträgern, historischen Fotografien und anderem mehr auch aussehen?
Hans Haid sprudelt vor Geschichten. Sie reichen von der Ur- und Frühgeschichte der Alpen über Ötzis Fundstelle und die darunterliegende ehemalige Hermann-Göring-Hütte bis zu den Opern mit Querverbindungen zur Ötztaler Volksmusik. Wie zur Untermauerung schafft Haid erzählenderweise immer wieder Schriften und Dokumente herbei. Es sind die Reste eines ehemals riesigen Archivs, das thematisch verstreut, nunmehr in geschichtlichen Archiven, Museen oder im örtlichen „Gedächtnisspeicher Ötztal“ liegen, einem 500 Jahre alten Bauernhof in Längenfeld; dort wird die Geschichte des Tales aufbewahrt und vermittelt und soll weiter erforscht werden.
Hans Haid ist, verkürzt formuliert, ein Volkskundler. So sehr man sich auch um eine kurze Charakterisierung bemühen mag – er passt in keine Schublade. Vielleicht ist er ganz einfach die Summe an Zuschreibungen, die der bekannte Tiroler Autor Felix Mitterer für ihn gefunden hat: „Heimatdichter, Geschichtsschreiber, Prediger, Satiriker, Vertriebener, Wortgewaltiger, Ungerechter, Hassender, Liebender, Dickschädel, Oberländer“.
Dass sich die volkskundlichen Forschungen des gebürtigen Längenfelders (Ötztal) zeitlebens auch auf das hintere Schnals- und Passeiertal erstreckt haben, sei hier nur am Rande erwähnt. In Südtirol kennt man ihn als Dialekt-Lyriker, Alpenforscher, Verfasser volkskundlicher Beiträge in Kulturzeitschriften oder als Tourismuskritiker der ersten Stunde. Als die zähe und verschlossene Kulturpolitik der Ära Magnago in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren in ihrem Zenit stand, war Haid es, der auf Veranstaltungen für frischen, rebellischen Wind sorgte. Und auf die Gefahren aufmerksam machte, die auch hierzulande der eben begonnene Tourismus-Rausch mit sich bringen würde.
Haid ist im Februar dieses Jahr 80 Jahre alt geworden. Vor Kurzem ist der erste Band einer dreiteiligen Werkausgabe zu seiner Lyrik, Prosa sowie Essays und Kolumnen zum Zeitgeschehen im Haymon Verlag erschienen (Band 1: „i schmeck in langes“).
Längenfeld, ein heißer Tag Ende des vergangenen Monats. Hier weitet sich das Ötztal in seiner Mitte zu einem breiten Talkessel. Rundherum die beeindruckenden Gipfel der Ötztaler und Stubaier Alpen. Wer vom Timmelsjoch herkommt und zuvor durch das ebenso beeindruckende Alpen-Disneyland Sölden gekommen ist, kann hier erstmals aufatmen – und ahnt, warum Volkskundler Haid immer auch schon der Tourismuskritiker war. Hans Haid spricht leise. Man trifft auf einen von einer schweren Krankheit gezeichneten Mann, der nur mehr in Ansätzen an jenen wortgewaltigen Warner und Polemiker erinnert, der er immer auch war.
Vor rund einem Monat hat Haid den größten Teil seiner umfangreichen Sammlung dem Gedächtnisspeicher Ötztal in seinem Geburtsort Längenfeld in Form einer Schenkung übergeben. Es sind die Früchte von mehr als sechs Jahrzehnten Arbeit. So lange nämlich hat Haid und seine vor wenigen Jahren verstorbene Frau, die Musikwissenschaftlerin und Volkskundlerin Gerlinde Haid, Kulturgeschichtliches aus dem Großraum Ötztaler Alpen gesammelt. Nun soll dort der Bestand aus Fotografien, Dias, Tonträgern, Dokumenten und Büchern fachgerecht gesichert werden. „Mir ist es wichtig, dass die Sammlung Interessierten zugänglich bleibt und wissenschaftlich aufgearbeitet wird“, sagt Haid. Mit der Inventarisierung und Digitalisierung der Sammlung wird gerade begonnen.
Haid ist das Gedächtnis des Tales, besser: das Gedächtnis des Kulturraums rund um die Ötztaler Alpen. Einen Teil der Sammlung hat er sich vorsichtshalber noch einbehalten. Es ist jener Teil, der eine dunkle Zeit im Ötztal festhält: Die Zeit zwischen 1938 und 1945, die Zeit, als hier die Nazis das Sagen hatten. „Das braune Tal“ nennt Haid diesen Teil seiner Sammlung, der aus Dokumenten, Schriften und den Fotografien der Nazi-Fotografin Erna Lendvai-Dircksen besteht. Haid fürchtet, dass eine konditionslose Übergabe dieses Materials an die hinter dem „Gedächtnisspeicher“ stehende Gemeinde nicht zwingend zur notwendigen Aufarbeitung führt.
„Er ist eher ein Grübler, einer, der sich seinen Pessimismus erarbeitet hat“, schrieb die Süddeutsche Zeitung vor wenigen Jahren über den Mann.
„Man will nicht, dass die Geschichte der Ötztaler Nazis aufgearbeitet wird. Auch will man nichts vom gigantischen Windkanal wissen, mit dessen Bau die Nazis hier bereits begonnen haben, um die Antriebe ihrer Flugzeuge zu testen“, sagt Haid. Das Martin-Busch-Schutzhaus der rührigen Alpenvereinssektion Brandenburg (heute Sektion Berlin) auf dem Weg zur Similaunhütte im Schnalstal trug früher den Namen von Nazi-Reichsmarschall Hermann Göring; etliche der Wanderwege tragen bis heute belastete Namen, meint Haid.
Sein Drang zur Aufarbeitung hat auch ganz persönliche Wurzeln. Seine Eltern waren im Ötztaler Widerstand und verfassten Spottverse auf lokale Nazigrößen, die sie neben der Längenfelder Kirche an einen Stadel hefteten. In seiner Sammlung befindet sich auch ein deftiges Spott- und Widerstandslied aus dem Passeiertal, das in antinazistischen Passeirer Kreisen gesungen wurde („Die Nazbrut ins Etschland eingebrochen“).
Haid bräuchte nach eigenem Bekunden noch zehn bis fünfzehn Lebensjahre. Dann erst möchte er sich beruhigt zurücklehnen. „Der Forschungsbereich rund um das braune Tal ist mir weitgehend entglitten, und es gäbe noch viel zu tun“, sagt er.
Haid hat zeitlebens „viel getan“. Rastlos hat er in seinem vielgestaltigen Lebenswerk Geschichte und Geschichten nicht nur aus den Ötztaler Alpen gesammelt. Seit jeher hat er sich auch mit der Natur-, Lebens- und Sagenwelt des gesamten Alpenraums auseinandergesetzt. Er blickt auf über 30 Buchveröffentlichungen zurück, darunter auch Romane und Gedichtbände. Ungezählt sind seine Beiträge in Fach- und Kulturzeitschiften, hierzulande zum Beispiel in der Arunda; darin hat er etwa zu Themen wie der „Kulturgeschichte der Lawine“ oder der „Volksmusik aus den Alpen“ (gemeinsam mit seiner Frau Gerlinde) geschrieben. Die Kulturzeitschrift aus dem Vinschgau hat er mehrmals selbst herausgegeben.
Dass sich der Mann auch auf Polemik versteht, zeigt sich nicht zuletzt in seinen zahlreichen Mundartgedichten. So in seinem Gedichtband „An Speekar in dein Schneitztiechlan“ (1973), der aus der verklärenden Heimatliteratur herausstach und kritische Gedichte über den Fremdenverkehr und die Schützen enthielt. Haid wurde tätlich bedroht und vom Ötztaler Heimatverein, dessen Gründungsobmann er war, ausgeschlossen.
Für Empörung sorgte auch sein Hörspiel „Wie die Tiroler Tirol wieder zurückerobern können … oder: von der verlogenen Heimatromantik“, das 1973 im Rundfunk gesendet wurde. Das war über eineinhalb Jahrzehnte vor Felix Mitterers skandalumwitterter TV-Serie „Piefke-Saga“. Die Liste der Haid’schen Aufreger ließe sich problemlos fortsetzen.
„Die Ötztaler Dialektgedichte sind mir sehr wichtig. In dieser Sprache treffe ich besser, greife ich tiefer, bin ich konkreter und zugleich poetischer“, sagt Haid. Seinen Sinn für Dialektdichtung hatte er bei der legendären „Wiener Gruppe“ rund um die Literaten H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner & Co geschärft, mit denen er freundschaftlich verbunden war. Der Ötztaler Dialekt wurde durch sein maßgebliches Zutun in das immaterielle Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen. Nur zu gerne möchte er seine Dialektlyrik heute mit neuer Musik verbunden wissen.
Dass es eine (intellektuelle) Welt abseits der Berge gibt, spürte Haid bereits als Zehnjähriger – als er seinem Vater sagte, dass er studieren wolle. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in einem katholischen Internat im Inntal waren seine Eltern jedoch außerstande, seine Ausbildung zu bezahlen. Es folgte die Unterbringung in einem Kärntner Kloster mit angeschlossener Landwirtschaft und privatem Gymnasium. Dort verdiente sich der junge Haid seine Ausbildung mit Kartoffelsetzen und Mostpressen. In Wien holte er als Privatist unter prekären Bedingungen die Matura nach, konnte dann endlich mit seinem Studium beginnen: der Volkskunde. Seine Dissertation schrieb er (1974) über „Das Brauchtum des Ötztales und seine Wandlung“.
„Auf diese Weise wurde ich sensibilisiert für das, was sich im Tal tut, obwohl ich 30 Jahre in Wien gelebt habe. Was mich zum Nestbeschmutzer gestempelt hat“, sagt Haid. Gelebt hat der Tatendurstige an mehreren Orten, so auch im Salzkammergut. 1990 kehre er ins Ötztal zurück, revitalisierte einen aus dem Spätmittelalter stammenden Bauernhof im Venter Tal und lebte bis vor nicht allzu langer Zeit mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel sowie ein paar Schafen, Ziegen, Hund und Katz auf dem knapp 1.700 Meter hoch gelegenen Hof „Roale“. Dort musste und wollte er die bergbäuerliche Anstrengung physisch wahrnehmen – und kämpfen für das Überleben der alpinen (Ötztaler) Kultur.
Hans Haid gilt als Initiator gleich mehrerer Vereine und Organisationen. Neben dem Ötztaler Heimat- und Museumverein hat er das internationale Dialekt-Institut, die Arge Region Kultur oder Pro Vita Alpina mitbegründet – einen alpinen Zusammenschluss zur Förderung kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung im Alpenraum von Slowenien bis Savoyen. EU-Projekte zur Regionalentwicklung vor Ort gehen maßgeblich auf ihn zurück, auch ist er Mitbegründer des Ötztaler Naturparks. Seine Verdienste haben ihm viele nationale und internationale Auszeichnungen eingebracht, 2007 verlieh ihm der österreichische Bundespräsident den Professorentitel, 2010 erhielt er den Otto-Grünmandl-Literaturpreis des Landes.
Dass Haid durch seine zuweilen forsche Art manchmal auch ein unglückliches Händchen bei der Durchsetzung seiner Projekte hatte, weiß man auch hierzulande. So konnte er die Rimpfhöfe in Kortsch oberhalb von Schlanders nicht zu dem Dokumentationszentrum für alpine Volkskultur ausbauen, das ihm vorschwebte.
„Er ist ein Narr, der Störenfried, der Seher. (…) Während sich die meisten in immer aberwitzigere Projekte zur totalen Nutzung der Natur stürzen, singt er das aufwühlende Lied der Erinnerung: Wer hier einmal war, was hier einmal war, wie es hier einmal war,“ heißt es in einem Vorwort Peter Turrinis zu dem Buch „Sie nehmen auch den Schnee“. Und man mag es auch mit dem österreichischen Schriftsteller halten, wenn er über Haid meint:
„Und wenn Hans Haid, dieser wortgewaltige Liebende, den die Liebe zu seinem Land und den Menschen in die verzweifelte Klage getrieben hat, endlich seinen Mund halten wird, dann werden sie ihm ein Denkmal errichten, gleich neben einer Piste aus Kunstschnee.“
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Hans Haid, 80, kam als erstes von sechs Kindern auf einem Bergbauernhof in Längenfeld/Ötztal zur Welt. Seine Ausbildung verlief unter prekären Umständen, mit Anfang dreißig begann er sein Volkskundestudium in Wien. Dort kam er in Kontakt mit den Schriftstellern der Wiener Gruppe mit H. C. Artmann. Der zweifache Familienvater gilt als einer der herausragendsten österreichischen Volkskundler, hat zahlreiche Initiativen und Organisationen mitbegründet und ist vor allem als Mundartdichter eine vielseitige literarische Stimme. Er gilt als kritischer Visionär, ist bekannt als Experte für die Geschichte und Geschichten des Alpenraums. Er lebt in Längenfeld.
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