Der Wirtschaftsprofessor Rudolf Kerschbamer zählt auf seinem Gebiet zu den führenden Köpfen. Daheim züchtet er seltene Chili, Äpfel und Tomaten.
Kultur
Absturz eines Helden
Aus ff 48 vom Donnerstag, den 28. November 2019
Gerd Müller war einer der berühmtesten Fußballer der Welt. Der Historiker Hans Woller hat ein Buch über ihn geschrieben – und blickt in sportliche, menschliche und politische Abgründe.
Hans Woller hat in diesen Tagen viel zu tun. Mehr als je zuvor, obwohl er schon in Rente ist. Der Historiker, lange am Institut für Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilian-Universität München und als Chefredakteur der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte tätig. Jetzt hat er, nach einer Biographie über Benito Mussolini, ein Buch über Gerd Müller (74) geschrieben, den „Bomber der Nation“, einen der besten Fußballer aller Zeiten --– Europameister, Weltmeister mit Deutschland, mit Bayern München drei Mal Gewinner des Pokals der Landesmeister (so hieß die Champions League damals), mit 40 Toren in einer Bundesligasaison bis heute unerreicht. Müller, 68 Tore für die deutsche Nationalmannschaft in 62, 453 für den FC Bayern in 398 Spielen, lebt heute in einem Pflegeheim, er leidet an Alzheimer.
Sein Buch „Gerd Müller oder wie das große Geld in den Fußball kam“ (C.H. Beck 2019, 351 Seiten, 25,20 Euro) stellt Woller, 67, am Donnerstag, 28. November, 20 Uhr, im Forum in Brixen vor (mit Walter Baumgartner, dem Präsidenten des FC Südtirol, als Gast).
„Im Moment“, sagt Woller, „ist alles ein wenig strapaziös.“
ff: Warum das?
Hans Woller: Ich habe einen Müller-Termin nach dem anderen. Gestern (Mittwoch, 20. 11.) hatte ich einen Auftritt im Literaturhaus in München, einem Ambiente, das mich sehr gefordert hat. Ich bin es nicht gewohnt, in solchen Häusern aufzutreten. Wenn ich dort hingehe, setze ich mich unauffällig in die letzte Reihe und höre voller Hochachtung den Literaten zu. Im Moment bin ein Handlungsreisender in eigener Sache. So ein Echo habe ich mir nicht träumen lassen.
Wie erklären Sie sich das Interesse?
Der FC Bayern München ist natürlich ein Dauerthema. Gerd Müller ist offensichtlich vielen Menschen positiv in Erinnerung geblieben. Und dann denke ich: So schlecht ist mein Buch nicht.
Gerd Müller lebt heute in einem Pflegeheim. Wann haben Sie ihn getroffen?
Im Frühjahr habe ich ihn dank der Einladung seiner Frau Uschi eine Stunde lang besuchen dürfen – er befindet sich dort ja schon seit 2015. Ein Gespräch mit ihm ist schon seit Langem nicht mehr möglich. Er sitzt im Rollstuhl oder liegt im Bett, er kann nicht mehr selbstständig essen, spricht nicht. Er ist dement, nach Auskunft seiner Frau geht es stetig abwärts.
Warum nach der Biographie über Benito Mussolini die Biographie eines Fußballers?
Ich bin seit 1975 als Historiker im Geschäft und habe viel Belastendes und Belastetes aufgearbeitet. Ich wollte einfach etwas ganz anderes machen. Ich habe nicht damit gerechnet, als ich mit den Recherchen begonnen habe, dass ich am Ende in der bayerischen Amigo-Wirtschaft lande. Ich wollte die Biographie eines Fußballspielers schreiben, dabei die Sozialgeschichte des Fußballs am Übergang vom Amateurstatus zum Profitum mitbehandeln.
Was hat Sie an Gerd Müller interessiert?
Erstens der Spieler. Und zweitens seine Herkunft, die mich mit ihm verbindet. Er kommt aus sehr kleinen Verhältnissen und ist aufgestiegen. Ich komme auch aus sehr kleinen Verhältnissen und bin, in meiner Zunft, nach oben gekommen. Ich weiß, was so ein Aufstieg für Mühe kostet, wie häufig man auf die feinen Unterschiede stößt, wenn man Dialekt spricht, nicht weiß, wie viele Symphonien Beethoven geschrieben hat oder man Goethe nicht zitieren kann. Gerd Müller ist Ähnliches widerfahren, beim FC Bayern und in der Münchner Gesellschaft.
Sind Sie etwa ein Fan von diesem Bonzenverein, dem FC Bayern München?
(lacht) Ich habe viele Spiele dieses Vereins ge--sehen, ja, ich bin ein Sympathisant. Doch in den vergangenen fünf Jahren ist meine Sympathie deutlich abgekühlt: einmal durch die Recherchen zum Buch – der Blick hinter die Kulissen war nicht immer appetitlich, aber auch ganz allgemein durch die Entwicklung des Fußballs und die Riesensummen, die da im Spiel sind. Zudem ist der Fußball im Fernsehen kaum mehr frei zugänglich, und für den Zugang bezahlen mag ich nicht. Insgesamt hat der Fußball in meinem Leben an Stellenwert verloren.
Was wollten Sie wissen, als sie zu recherchieren begonnen haben?
Wie das Geld in den Fußball gekommen ist, als er sich professionalisiert hat, wie das Leben eines Spielers ausgesehen hat, welchen Belastungen er ausgesetzt war. Ich wusste am Anfang nichts über die Verwicklungen des FC Bayern mit der Politik – ein „Bonzenclub“, wie sie ihn genannt haben, war er damals ja noch nicht, in den Sechziger- und Siebzigerjahren war der Verein ständig knapp bei Kasse. Wenn man so ein Buch schreibt, muss man natürlich zuerst einmal eine Schicht von Mythen und Legenden abtragen. Fußball-vereine, Führung und Spieler, neigen generell zur -Verklärung ihrer Geschichte, sei es in München, sei es in Dortmund.
Wie sind Sie auf die Verbindungen mit der Politik gestoßen?
Mit dem Handwerk des Historikers natürlich. Ich habe monatelang in alten Zeitungen gelesen, die Archive konsultiert und mit so vielen -Zeitzeugen gesprochen, wie es eben nur ging – 60 waren es am Ende. Allein da kamen um die 150 Stunden Audiomaterial zusammen.
Und die Schwarzgeldzahlungen des Vereins an die Spieler?
Darauf bin ich in den ungedruckten -Memoiren des ehemaligen Bayernpräsidenten Wilhelm Neudecker gestoßen, die ich in der Bayern-Erlebniswelt in der Allianz-Arena aufgestöbert habe. Und im Nachlass des ehemaligen Leiters der bayerischen Staatskanzlei, Rainer -Keßler, der im Bayerischen Staatsarchiv in München verwahrt wird. Dort findet sich ein Schriftwechsel zwischen ihm und Bayern-präsident Neudecker. Daraus ergibt sich -zwingend, dass es ein Amigo-System hinsichtlich Steuerhinterziehung gegeben hat. Auch habe ich die Zeitzeugen, mit denen ich gesprochen habe, immer wieder auf das Thema hingelenkt. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass ich keinen Zugang zu den Steuerakten von Gerd Müller, den Akten des Finanzministeriums zu Gerd Müller und auch nicht zu den Akten des FC Bayern bekommen habe.
Wer war dieser Gerd Müller?
Er wird als Fußballspieler gefeiert und gleichzeitig als „Abstauber“ abgewertet. Damit wird man diesem genialen Fußballer nicht gerecht: Er konnte viel mehr, als nur an der richtigen Stelle zu stehen und den Ball dann ins Tor zu schieben, nein, er konnte das Spiel lesen, er war ein erstklassiger Techniker, er konnte links wie rechts schießen, er war auch mit dem Kopf gefährlich. Über Gerd Müller machen sich viele Leute lustig, sie betrachten ihn als einfältigen Menschen. Ich habe ein anderes Bild von ihm gewonnen: Er war ein komplexer Charakter, vermutlich sogar ein kluger Kopf. Einfältig war er bestimmt nicht.
Auch wenn er am Ende seiner Karriere nicht so zurechtgekommen ist im Leben.
Bis weit in die Siebzigerjahre hinein hat er beim FC Bayern viel Geld verdient und es auf seriöse Art angelegt. Dann geriet er in eine schwere Krise. Das Karriereende nahte, und es gab eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt, die eine hohe Nachversteuerung nach sich zog – sie hat das Vermögen der Müllers aufgefressen. Und die Ehe war in Krise, und er hat öfters zu tief ins Glas geschaut. Von da aus führte der Weg in die USA – so konnte er sich aus seiner finanziellen Notlage befreien.
Er war Alkoholiker?
Ja. In den USA scheint er sich ein wenig -gefangen zu haben. Er hat sein Geld in ein Gasthaus und in eine Wurstfabrik investiert. Dann lief das Gasthaus nicht mehr, die Wurst-fabrik war ein Fass ohne Boden, und als die Müllers nach Deutschland zurückkehrten, wusste er nicht mehr, was er mit sich an--fangen sollte. Er hat immer mehr oder nur mehr getrunken – das war die Phase zwischen 1985 und 1991. Er hat dabei seine Ehe, sein Vermögen und sein Leben aufs Spiel gesetzt.
Aus dem Sumpf gezogen hat Gerd Müller dann Uli Hoeness, der Manager des FC Bayern München?
Hoeness hat, als er gehandelt hat, entschlossen gehandelt: Entziehungskur, Reha, Trainerstelle beim FC Bayern, wenn Gerd Müller trocken bleibt. Und so ist es auch gekommen. Gerd Müller wurde 1992 Trainerlehrling beim FC Bayern, er blieb dort auch dann noch, als die Anzeichen für eine Demenz immer deutlicher wurden.
Ihr Anspruch war es ja, nicht nur eine Biographie von Gerd Müller zu schreiben, sondern auch eine Sozialgeschichte des Fußballs. Was war denn der Fußball in den Sechzigerjahren, als Gerd Müller von einem Amateurverein, vom TSV Nördlingen, zum FC Bayern gewechselt ist?
Das war die Zeit, als noch die Mannschaft, die Geselligkeit innerhalb des Vereins, im Vordergrund standen. Die finanziellen Unterschiede zwischen Leistungs- und Wasserträgern waren noch nicht so groß. Aber dieser alte, heimelige, Fußball ist schnell, spätestens Anfang der Siebzigerjahre, vom Profitum abgelöst worden, die Mannschaften wurden zu Zweckgemeinschaften, bei denen der Erfolgsgedanke im Vordergrund stand. Die Fußballvereine wurden einer Kapital-gesellschaft ähnlich: Das Ziel war, Titel zu erringen und Geld zu machen.
Ihr Buch trägt den Titel „Gerd Müller oder wie das große Geld in den Fußball“ kam. Wie kam das große Geld in den Fußball?
Nach Einführung der Bundesliga 1963 wurde der Fußball rasch attraktiver, spielerisch, aber auch und vor allem als Werbeträger für die Wirtschaft. In dieser Zeit hat auch die Politik den Fußball entdeckt: Die Nähe zum angeblich bodenständigen Fußball versprach Wählerstimmen. Der Fußball war ein Aushängeschild für die CSU und die bayerische Staatsregierung. Und diese haben getan, was möglich war, um die teure Mannschaft des FC Bayern München zusammenzuhalten.
Wie?
Mit Steuernachlässen. Mit Gesetzen, die ausdrücklich auf die Interessen des FC Bayern zugeschnitten waren. Der bayerische Finanzminister hat dem Präsidenten des Vereins bestimmte Formen der Steuerhinterziehung geraten, um die Spieler finanziell zufriedenzustellen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, CSU-Staats-sekretär Erich Kiesl habe die Mannschaft ständig auf Auslandsreisen begleitet und Bayern-präsident Neudecker 1972 einen bayerischen SPD-Bundestagsabge-ordneten dazu bewogen, beim Misstrauensantrag der CDU/CSU gegen das Kabinett von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt zu stimmen.
Ja. Und ich kann Ihnen noch ein anderes Beispiel nennen: Der FC Bayern hat in den Siebziger-jahren ständig unter Geldnot gelitten. So, dass er manchmal nicht einmal mehr die Spielergehälter bezahlen konnte. Wie kam man aus dieser Misere heraus? Durch ein Freundschaftsspiel nach dem anderen: häufig in Südamerika, über Weihnachten oder in der Sommerpause. Diese Reisen konnten bis zu vier Wochen dauern. Die Dollars, die man dabei eingenommen hat, sollten, auf Anregung des bayerischen Finanz-ministers wohlgemerkt, unmittelbar den Spielern zugutekommen. Das Geld wurde mitunter schon auf dem Rückflug verteilt – und bei einer Zwischenlandung in Zürich auf der Bank deponiert. Die Begründung des Ministers: Diese Mannschaft mit den bayerischen Landeskindern, Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Gerd Müller, müsse unbedingt zusammenbleiben, das sei nicht nur ein sportliches, sondern auch ein politisches Erfordernis.
Gerd Müller war Europameister, Weltmeister, zigfacher Torschützenkönig in der Bundesliga. Was bleibt von ihm?
Er wird so schnell nicht übertroffen werden können. Er hat viele und entscheidende Tore geschossen, wie das Siegtor bei der WM 1974. Er ist eine Art Projektionsfläche für unsere Wünsche an den Fußball: Viele wünschen sich ja nicht den Fußball, wie wir ihn jetzt heben – mit den riesigen Summen, die zirkulieren, der Inflation an Fernsehübertragungen, Spielern, die wie Roboter reden. Wir wünschen uns einen Fußball, der uns näher ist, authentischer, ehrlich, bei dem geschwitzt, geschimpft und gekämpft wird – nach dem Vorbild von Gerd Müller.
Was erzählt diese Figur über die Gesellschaft?
Man kann an dieser Figur viel zeigen: den sozialen Aufstieg, der für viele Menschen in dieser Zeit möglich wurde; an ihrem Beispiel kann man zeigen, wie sich das Verhältnis von Fußball und Medien entwickelt oder wie sich das Verhältnis von Fußball und Medizin – Stichwort: Doping – gestaltet hat. Man kann am Beispiel Gerd Müller tief hineinleuchten in den Zustand der deutschen Gesellschaft und des Sports.
Interview: Georg Mair
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