Kultur

Im Quarantän

Aus ff 22 vom Donnerstag, den 28. Mai 2020

Verwelkt
"Wenn wir für das Quarantän – es wird wohl eine Ära sein – etwas ganz schnell verinnerlichen oder wieder lernen sollten, dann ist es ein neu zu gestaltender, ergebener Umgang mit dem Tod." Waltraud Mittich © Unsplash/Daria Shevtsova
 

Wir verschweigen den Tod heute, als sei er etwas Unanständiges. Mit dem ­Coronavirus jedoch ist er ­ziemlich brachial wieder in unser Leben getreten.

Wie bereits die Überschrift verrät, gehe ich davon aus, dass die Nach-Corona-Zeit ein langer Zeitabschnitt sein wird. Es kommt, Hand in Hand mit dem Klimawandel und einer notwendigen neuen Klimapolitik, eine andere, vielleicht keine gute, möglicherweise eine für den Planeten Erde aber doch zuträgliche Zeit, für seine menschlichen Bewohner eine belastende, vielleicht auch nur eine ohne den Überfluss und Luxus, an den ein Teil seiner Bewohner gewohnt war. Es wird neue Inhalte geben. Ich kann nicht sagen, welche. Aber es wird und muss einen anderen Umgang mit dem Tod geben. Mit dem eigenen, mit dem unserer Liebsten, mit dem Tod, der allem Leben gewiss ist.

Der Vergänglichkeitsgedanke der Barockzeit: memento mori und media in vita in morte sumus – gedenke des Todes, mitten im Leben sind wir des Todes – ist unseren Gesellschaften abhanden gekommen. Wir haben den Gedanken an den Tod ausgesperrt. Unser Glaube an den Fortschritt, die Wissenschaft, die Medizin hat dazu beigetragen. Dies war früher notgedrungen anders. Ich muss Rainer Maria Rilke bemühen mit seinem Gedicht Oh Herr, gieb jedem seinen eignen Tod und noch viel mehr mit der Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge, einem Roman, in dem das Sterben und der Tod zu den Leitmotiven zählen.

Schon zu Rilkes Lebenszeit (1875–1926) hat der Verlust der Verankerung im Jenseits stattgefunden, die Gewissheit, zumindest die Annahme, dass der Tod ein absolutes Ende bedeutet, hat sich durchgesetzt. Der Auseinandersetzung mit dem Tod hat es keinen Abbruch getan. Da stehen diese wunderbaren Sätze im „Malte“:

„Aber ich fürchte mich, ich fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung (dem Tod). Ich bin ja noch gar nicht in diese Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint. Was soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind.“

Oder:

„Früher wusste man, dass man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. ... Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an, dass er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei Monate und so laut, dass man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus. ... Cristof Detlevs Tod ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen und die blieb er. Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.“

Einen solchen Tod, so lang andauernd, so anstrengend für die Mitwelt, wollen wir uns heute nicht mehr leisten. Wir wünschen ihn beinah hygienisch, am besten im Krankenhaus. Wir verschweigen ihn, als sei er etwas Unanständiges.

Mit dem Coronavirus jedoch ist der Tod – unser Sterblichsein – durch die Hintertür, aber ziemlich brachial, wieder stärker in das Bewusstsein und in unser Leben getreten. Wobei wir uns verdeutlichen müssen, dass die Situation, das, was wir jetzt erleben, überhaupt nicht vergleichbar ist mit dem millionenfachen Tod in den Weltkriegen.

Wie gehen wir im jetzigen Augenblick damit um, dass dieses winzige Virus plötzlich Tausende Menschen töten kann, nicht im fernen Afrika, sondern mitten im reichen Europa und in den USA? Am liebsten würden wir uns gegen den Tod versichern. Tun wir ja auch. Im Todesfall soll das und das und das geschehen. Aber gegen den eigenen Tod kommen wir mit keiner Versicherung an. Ich habe allerdings das Gefühl, dass wir in diesen Coronazeiten – wenn es bloß möglich wäre – Landeshauptleute, Präsidenten, das Land, den Staat und überhaupt die Politik verantwortlich machen würden für den Tod, die ihrerseits so tun, als seien sie tatsächlich zuständig und fähig. Dabei würde es genügen, wenn sie die strategische Rolle der öffentlichen Verwaltung im Sanitätswesen sozial gerecht und angemessen berücksichtigen würden.

Im Quarantän tritt die ganze Hilflosigkeit einer Gesellschaft zutage, die das Delegieren auf die Spitze getrieben hat und darauf hin lebt, Verantwortung, auch für den Tod, abzuwälzen und die Gesundheit als eine Art Götzin verehrt. Denn seit uns religiöser Trost abhanden gekommen ist, leben wir, um gesund zu sein. Der Tod ist außen vor. Und doch leben auch wir auf ihn hin und zu.

Wenn wir für das Quarantän – es wird wohl eine Ära sein – etwas ganz schnell verinnerlichen oder wieder lernen sollten, dann ist es ein neu zu gestaltender, ergebener Umgang mit dem Tod. Die Kranken besuchen und die Toten begraben, Empathie empfinden im Wissen, dass sie nur punktuell funktioniert, nur mit denen in nächster Nähe, nicht mit den Millionen Menschen, die sie auch bräuchten, die biblischen Werke und Werte der Barmherzigkeit anwenden, einfach tun. Denn das Virus hat uns gelehrt: Es kommen härtere Tage.

„Denk es, o Seele“, das Gedicht von Eduard Mörike möchte ich nicht als Eingeständnis einer Niederlage der Moderne lesen, sondern als ein Bekenntnis unserer menschlichen Verletzlichkeit, deren Anerkennung weise ist:

Zwei schwarze Rösslein weiden

Auf der Wiese

Sie kehren heim zur Stadt

In muntern Sprüngen.

Sie werden schrittweis gehen

Mit deiner Leiche;

Vielleicht, vielleicht noch eh’

An ihren Hufen

Das Eisen los wird, das ich blitzen seh.

Denn was wirklich zählt, – in Corona-zeiten ist der Durchblick auf einmal leichter, – ein würdiges Sterben gehört auf die Liste. Der Totenkult ist kulturelles Erbe und Auftrag gleichzeitig. Das Beste möglicherweise, was das Land Südtirol diesbezüglich zu bieten hat, ist ein dreisprachiges Totenfest zu Allerheiligen.

Das Lied vom Guten Kameraden als Trompetensolo, von Ludwig Uhland 1825 gedichtet, an Kriegsgräbern gespielt, ein Männer- und Soldatenlied, Wehrmachts-tradition auch, vielleicht kollektive Todesphantasien verbergend – doch wenn dann die Hörner einfallen und am Schluss alle Instrumente der Blaskapelle zusammen spielen, wenn es widerhallt von den nahen Bergen, vier Krähen schwingen sich, wenn der gedankenverlorene Pfarrer in bestem Italienisch Fürbitten liest und Deutsche und Italiener und Ladiner in dunklem Gemurmel Ascoltaci o Signore antworten, dann sind das Fest, die Toten, das Land und die Menschen in sich ruhend, zusammengehörig, und alles ist plötzlich richtig.

Es gibt einen Essay von Michel de Montaigne mit dem Titel „Philosophieren heißt sterben lernen“, geschrieben um 1570, in dem der Philosoph kurz nach seinem 39. Geburtstag schreibt: „Nach dem gemeinen Gang der Dinge lebst du schon lange nur durch einen außerordentlichen Glücksfall.“

Wir haben heute eine Kultur der Langlebigkeit. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall für viele.

von Waltraud Mittich

Waltraud Mittich, Jahrgang 1946, gab im Alter von 49 Jahren ihre Lehrer-stelle auf und widmet sich seitdem dem Schreiben. 2002 erschien ihr erstes Buch, „Mannsbilder“, es folgten „Grandhotel“ 2008, „Abschied von der Serenissima“ 2014, „Micòl“ 2016.
Im vergangenen Jahr erschien ihr neuer Roman „Sanpietrini“. Mittich lebt mit ihrem Mann in Bruneck, ihre zwei erwachsenen Kinder leben in Zürich.

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