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Kultur
Rosenkranz der Abschiede
Aus ff 48 vom Donnerstag, den 26. November 2020
Joseph Zoderer, Südtirols wichtigster Schriftsteller, wird 85. Ein Interview über das Altern – und den Groll, im eigenen Land nicht gelesen zu werden.
ff: Herzlichen Glückwunsch! Covid-bedingt dürfte die Feier im kleinenKreis stattfinden.
Joseph Zoderer: Ich werde hier auf dem Hof in Terenten feiern – mit meiner Frau und mit meinem Hund.
Wie können wir uns Joseph Zoderer als 85-Jährigen vorstellen?
Manchmal muss ich ja auch lachen. Als ich jung war, dachte ich, ein 85-Jähriger ist einer, der eher kriecht als geht. Stattdessen stelle ich jetzt fest, dass ich mich heute wie ein Sechzigjähriger fühle – und zwar in jeder Hinsicht.
Wie leben Sie?
Im Herbst war ich in Bruneck, zunächst in der Mössmer-Villa, dann am Graben, wo ich meine Schlafkammer habe. Als dann zu Allerheiligen alle Bars geschlossen haben, bin ich hinauf nach Terenten. Hier fehlt mir nichts, das Alleinsein macht mir keine Probleme. Ich habe einen Beruf, der aus dem Alleinsein schon fast eine Notwendigkeit macht. Und so wandere ich hier durch Wiesen und Wälder – und bin recht glücklich.
Fit durch Wandern also?
Ja, ich gehe viel mit meinem Hund, das hält ihn fit, aber vor allem mich. Er ist ein verspielter Schäferhund, und er liebt es, wenn ich ihm das Steckele werfe. Ich stehe zwischen fünf und sechs in der Früh auf, höre klassische Musik, dann frühstücke ich mit Sandra, meiner Frau. Daraufhin höre ich etwa eine Stunde lang Ö1, dann machen wir zusammen den Vormittagsspaziergang – und dann setze ich mich an meinen Schreibtisch. Das Ganze wiederholen wir am Nachmittag. Ich bin also voll drin in der Lebensfreude – vorausgesetzt, ich kann schreiben. Denn wenn ich zwei Tage nicht schreiben kann, werde ich ungemütlich. Das war immer schon so.
Sie sind also wieder zurück zu Ihrer Frau Sandra Morello auf den Hof in Terenten?
Eigentlich war ich nie weg. Liebe ist in meinen Augen ein anderes Wort für Leben. Ob König oder Knecht, jeder möchte geliebt werden – und möglichst viel Zeit in einer Liebesbeziehung verbringen. Als Künstler ist man ja in einer begnadeten Situation. Ganz anders mein Bruder Hans, er wurde über 87 Jahre alt, aber da seine Frau schon früh gestorben ist, hat er zuletzt geradezu geschrien vor lauter Einsamkeit.
Die Beziehung zwischen Ihnen und ihrer Frau war lange Zeit sehr konfliktreich.
Aber wir waren nie ganz getrennt. Ich habe immer meinen Ehering getragen und jeden Tag mindestens einmal mit ihr telefoniert. Ich habe weder sie noch meine Tochter allein lassen wollen, sondern wollte in der Nähe sein, falls etwas fehlen sollte. Und so konnten wir eine sehr nahe Freundschaft aufrechterhalten. Ich frage: Wer befindet sich nach so vielen Jahrzehnten noch in einer Verliebtheitsphase mit seiner verheirateten Frau? Im Lauf der Zeit entwickelt sich eine Treue ganz anderer Art. Sandra ist der Mensch, mit dem ich am meisten Gedanken und Gefühle teile. Andererseits ...
Andererseits?
Schauen Sie doch! Schriftsteller und Künstler haben nie nur eine Frau, sondern Dutzende von Frauen. Für mich war das Leben immer ein Abenteuer. Das Wesen Frau war in meinem Leben immer präsent und etwas sehr Positives. Es war immer irgendwie zwischen Liebe und Abschied. Insofern könnte ich mein Leben definieren als einen Rosenkranz der Abschiede.
Ihre Frau muss sehr tolerant sein.
Ja natürlich. Sie ist Akademikerin, sie kommt aus einer hochbürgerlichen Familie. Sie kennt sich aus – in der Weltliteratur und in der Wirklichkeit. Wir standen uns politisch immer sehr nahe. In zwei Jahren feiern wir die Goldene oder wie man das nennt, wenn man 50 Jahre lang verheiratet ist.
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Nein, nie. Ich bin mit vier Jahren mit meiner Familie nach Graz ausgewandert – als Optanten kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Dort wurden wir nachts von Sirenen geweckt, ich habe gesehen, wie Leute von Bomben zerfetzt worden sind. So etwas prägt. Nach dem Krieg bin ich nachts oft auf den Friedhof gegangen. Ich wollte herausfinden, ob die Toten mit mir reden.
Covid lässt Sie also kalt?
Aufpassen tu ich schon. Und ich bin auch stark dafür, dass die Leute aufpassen. Andererseits weiß ich, dass mir hier in dieser Abgeschiedenheit nichts passieren kann. Ich wollte mich ja testen lassen. Aber dann hat mir meine Tochter Brenda davon abgeraten: Bleib zuhause, hat sie gesagt, es genügt, wenn Sandra sich testen lässt. Wenn jemand ins Dorf zum Einkaufen geht, dann ist sie das. Also wenn Sandra negativ ist, dann fehlt mir auch nichts.
Sie haben gesagt, Sie setzen sich jeden Tag an den Schreibtisch.
Weil ich mir nicht vorstellen kann, nichts mehr zu schreiben. Ich wüsste zwar nicht, was ich noch unbedingt hinzufügen müsste zu all dem, was ich in meinem Leben schon niedergeschrieben habe. An den Wänden der Mössmer-Villa hängen zwei noch unfertige Romane. Da liegen überall Zettel herum. Für nächstes Jahr habe ich mit Haymon einen Lyriktitel vereinbart. Ich schreibe jeden Tag das eine oder andere lyrische Werkl.
Trotzdem, es ist etwas still geworden um Zoderer.
Also bitte! Das ist Südtirol! Ich bin nicht einer, der die Zeitungen anruft.
Die Zeitungen müssten Sie anrufen?
Tun sie aber nicht oder höchst selten. Als „Die Walsche“ in diesem Frühjahr von der italienischen Unesco-Kommission auf die Liste des literarischen Welterbes gesetzt worden ist, da hat mich keine ff angerufen. Das scheint hier in Südtirol nicht zu interessieren. Ich habe schon damit gerechnet, dass die ff mich nicht einmal zum Fünfundachtzigsten anruft.
Stattdessen ...
Sie sagen, es sei still um mich geworden. Da frage ich Sie: Welcher andere Schriftsteller in meinem Alter bringt einen Roman wie den „Irrtum des Glücks“ heraus? Das Brennerarchiv und die Universität Innsbruck bringen noch heuer ein Zoderer-Handbuch heraus. Handbücher gibt es nur von Größen wie Peter Handke und so! Ich möchte gar nicht wissen, wie wenige Südtiroler den „Schmerz der Gewöhnung“ gelesen haben – meinen wichtigsten Roman. Was kann ich dafür, wenn ihr mich nicht liest?
Sie klingen verbittert?
Ich stelle fest, was Sache ist. Welcher Politiker hat je Zoderer gelesen? Ja vielleicht der Durnwalder, weil ich im Roman sein Schwammerlgesetz komödiantisch verarbeitet habe. Ich war hier in Südtirol immer ein Tabu. „Die Walsche“ war wochenlang auf der deutschen Bestenliste. Als das Buch 1982 herauskam, bin ich mit Thomas Bernhard drei Wochen in den Wald zum Holzhacken gegangen. Ich habe überall in Deutschland, Österreich und der Schweiz gelesen.
In Südtirol bekamen Sie 2005 den Walther-von-der-Vogelweide-Preis.
Südtirol ist zu 90 Prozent ein Bauernland. Silvius Magnago hat ja einmal öffentlich gesagt, dass „Die Walsche“ – er meinte wohl die Romanverfilmung, denn das Buch hat er sicher nicht gelesen – grauslich sei, weil da einer in Unterhosen herumrennt. Also das war alles, was Magnago zu Zoderer einfiel. In Südtirol sind die Künstler unten durch. Wäre ich in Wien, könnte ich mich dort mit einem Robert Menasse treffen und an den Sitzungen der Akademie für Literatur teilnehmen. Das ist hier nicht möglich, aber bitte, ich will mich nicht beschweren. Was ich aber nicht gelten lasse, ist die Anschuldigung, dass ich still geworden sein soll. In den vergangenen acht Jahren habe ich fünf Bücher herausgebracht. Wer schreibt so viel wie ich? Wenn hierzulande so wenig Interesse für Hochkultur herrscht, kann ich nichts dafür. Ich wette, dass die meisten Südtiroler Lehrerinnen nie ein Buch von mir in die Hand genommen haben, aber wenn man sie auf Zoderer anspricht, sagen sie, ach ja, das ist der, der sagt, dass die Bauern Landesverräter sind.
Sie glauben, nicht verstanden zu werden?
Ich habe mich immer dagegen gewehrt, von Reimmichl-Anhängern gelesen zu werden. Ich wollte mit der Weltliteratur auf Augenhöhe sein.
Ihr lautester Roman war aber „Die Walsche“, erschienen vor 38 Jahren.
Und wissen Sie, warum man diesen Roman als laut empfunden hat? Weil es die Journalisten freut, wenn sie eine Geschichte verstehen und leicht nacherzählen können. In „Die Walsche“ geht es vordergründig um eine allgemeingültige Kausa. Aber da ist dann auch die Sprache, die Einsamkeit. Diese Themen sind in „Schmerz der Gewöhnung“ viel stärker entwickelt. „Die Walsche“ war mein Durchbruch, das ist richtig. Aber schon früher war das „Glück beim Händewaschen“ erschienen, leider bei einem kleinen Verlag, weshalb das Buch lange Zeit nicht so erfolgreich war.
Still sein klingt also in Ihren Ohren wie ein Todesurteil?
Ich bin nicht still. Südtirol ist still. Hier zieht es jeder vor, sich im Fernsehsessel zurückzulehnen und nicht gestört zu werden – schon gar nicht von einem Zuagroasten wie mich, der heute noch kein richtiges Pustrerisch spricht, obwohl wir 1956 diesen Hof hier in Terenten gekauft haben, also seit einem halben Jahrhundert hier leben. Südtirol lässt die Hochkultur außen vor.
Interview: Norbert Dall’Ò
Joseph Zoderer ist Autor von Romanen wie „Das Glück beim Händewaschen“, „Die Walsche“ oder „Der Schmerz der Gewöhnung“. Zuletzt ist 2019 bei Haymon der Roman „Der Irrtum des Glücks“ erschienen.
Die Gesamtausgabe seiner Werke erscheint bei Haymon. Mehr zu Leben und Werk des Autors findet sich auf der Plattform des Brennerarchivs in Innsbruck „Joseph Zoderer im Zoom“ (https://literaturtirol.at/zoderer)
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