Leben

Theo spielt immer

Aus ff 12 vom Donnerstag, den 19. März 2020

Theo Rufinatscha
Theo Rufinatscha vor den Bildern aus seiner Vergangenheit: „Die Bühne hat ihm mehr Kraft gegeben, als er verbraucht hat.“ © Juliane Wild
 

Wie er dem Tod davon- und dem Theater entgegengelaufen ist: Die bewegende ­Lebensgeschichte des Schauspielers und Gastwirts Theo Rufinatscha.

Theo Rufinatscha steht aufrecht und selbstbewusst hinter dem Tresen der Bar, die Hände besitzergreifend auf die Tischfläche gelegt, die Stammgäste spielen lautstark Karten.

An den Wänden des Gasthauses in Meran, um den sich ein Kreisverkehr legt, hängen unzählige Bilder seiner Auftritte: „Jedermann“, „Andreas Hofer“, „Der kleine Prinz“. Viele männliche Hauptrollen in deutschsprachigen Bühnenklassikern hat er verkörpert, sie sind durch seine Interpretation und Bühnenpräsenz fest im Gedächtnis der Südtiroler Theater- und Heimatbühnenfans verankert.

Als der 83-Jährige bedächtig die knarzenden Treppen des alten Bauernhauses hinauf in seine Wohnung steigt, verlässt er die quirlige und gesellige Welt des Gasthauses. Seine Lebenswelt. Der Raum wirkt durch die dunklen Holzmöbel düster. Die zugezogenen Vorhänge halten die Geräusche ab. Es ist sein Ruheort.

Theo Rufinatscha lässt sich auf das weiße Sofa niedersinken, bevor er einen unscheinbaren roten Koffer öffnet. Ahnenpässe, alte Fotos und Erinnerungen. Dann beginnt er zu erzählen, wie er dem Tod davon - und dem Theater entgegengelaufen ist.

Aufbruch und Rückkehr. 1939: Die Welt steht am Abgrund, als Theos Vater wegen der faschistischen Herrschaft und der Arbeitslosigkeit in Südtirol beschließt, nach Znaim (Znojmo) in die Tschechei auszuwandern. Dort lebte eine Tante der Mutter, die sie aufnahm. Theo war knapp drei Jahre alt, er verstand noch nicht, warum die deutschsprachigen Südtiroler sich zwischen Italien und dem deutschen Reich entscheiden mussten. Ein tiefer Spalt ging durch das Land.

Er war noch zu klein, um den Krieg zu verstehen, der bald nach der Option ausbrach. Während der Flucht der Familie und ihrer Rückkehr tobte der Krieg – Tote auf der Straße liegen zu sehen, jagte dem Bub bald keinen Schrecken mehr ein.

In Znaim besuchte er die erste Klasse der Grundschule „Peter Rosegger“, bis die Schulheimat-Idylle ein Jahr später bombardiert und der Unterricht im Keller weitergeführt wurde. 1944 wurde sein Vater eingezogen. Es dauerte zwei Jahre, bis Theo ihn wieder traf.

Der 25. Mai 1945 hat sich in Theos Erinnerung eingebrannt, es war der Tag, der seine Familie ein zweites Mal heimat- und ruhelos machte. An jenem Tag, als die Sonne wie ein Vorbote des Sommers vom Himmel schien, marschierten die Russen ein und die Familie musste erneut fliehen. Nach 5 Jahren machte die Familie sich auf den beschwerlichen Rückweg nach Meran. Mit nur einem Leiterwagen und hastig gepacktem Koffer mussten Mutter, Großmutter und die drei Kinder die sechsmonatige Reise überstehen. Sie dauerte vom zarten Frühling bis in den späten, unbarmherzigen Herbst. Theos jüngste Schwester war da erst 8 Monate alt.

Theo Rufinatscha beschreibt die Rückreise als eine düstere und beklemmende Zeit. Aus Angst vor einer Vergewaltigung verkleidete sich seine ältere Schwester, zwölf Jahre alt, als alte Frau. Er selbst musste in den Dörfern betteln gehen. „Wir wollten unbedingt zusammen ans Ziel gelangen“, sagte er.

Als sie in Waizendorf in Bayern, von Müdigkeit übermannt, in einer Scheune übernachteten, kamen die Russen. Sie nahmen Theo und alle Jungen, die sie finden konnten, gefangen. Doch er kletterte über die Mauer und entkam, einen Tag, bevor seine Familie weiterzog.

Seine Hände zittern leicht. Er begradigt die Kugelschreiber, welche vor seinen Rätselheften liegen, bevor er weiterspricht. Die Reise zurück in die verloren geglaubte Heimat erinnert an einen Spielfilm. Ohne Papiere, ohne Identität, ohne Hilfe, waren sie gezwungen, die Grenzen zu überschreiten.

Besonders gefährlich gestaltete sich die Überfahrt über die Enns, einem Fluss in Oberösterreich, der die russische von der amerikanischen Besatzungszone trennte. Da die Brücke über den Fluss streng bewacht war, mussten sie sich einzeln bei Nacht von einem ehemaligen deutschen Wehrmachtsoffizier auf einem Schlauchboot übersetzen lassen. Die Lichtkegel der Scheinwerfer tasteten die Ufer ab, während die Familienmitglieder diesseits und jenseits des Ufers in der Dunkelheit kauerten. Nach einer gefühlten Ewigkeit voller Angst und Erwartung konnte Theo mit dem Leiterwagen die Grenze überqueren.

Auf die Frage, wie er Schrecken und Erlebnisse verarbeiten habe können, antwortet er lakonisch: „Entweder du krepierst oder du kommst durch“.

Die Ankunft in Meran war der Beginn eines neuen Leidenswegs. Zum zweiten Mal mussten die Rufinatschas neu anfangen. Die Stadt war ihre Heimat, sie erkannten sie jedoch kaum wieder. Die Familie hatte die italienische Staatsbürgerschaft und ihr Haus verloren. Für die jüngste Schwester von Theo war es besonders kompliziert, da sie in Tschechien geboren war. Weil ihr der Geburtsschein fehlte, konnte sie lange nicht heiraten.

Ein Lichtblick war die Wiedervereinigung mit dem Vater, er kam 1946 aus der russischen Gefangenschaft zurück. Doch der Start in Meran war schwer: Die Wohnverhältnisse in einem Keller in Obermais beengt und prekär, die finanziellen Verhältnisse besorgniserregend.

Der Vater arbeitete wieder als Maurer, die Mutter als Kassierin und die Kinder stahlen, um durchzukommen. Theo erzählt mit verschmitztem Lächeln, dass er sogar das Holz vom Zaun auf dem Tappeinerweg abbrach, um im Winter Feuer zu machen.

Die dritte Klasse Volksschule musste er wiederholen, weil er kein Italienisch konnte. In Znaim hatte er nur Deutsch und Tschechisch gelernt.

Der Gastwirt und Schauspieler. Nachdem er – trotz anfänglicher Schwierigkeiten- seine Ausbildung mit dem Besuch der Handelsschule abgeschlossen hatte, wollte er zunächst Kaufmann werden.

Doch 1966 pachteten er und seine Frau Germania den „Ressmair“, einen Gasthof in Untermais, und Theo wurde Gastwirt. Ein Alltag, der ihn bis heute begleitet. Auch jetzt noch, 54 Jahre später, verbringt Theo immer noch jeden Vormittag hinter dem Tresen und serviert den Gästen Frühstück.

Zum Gasthaus hat er eine besondere Bindung, doch er fürchtet dessen Zerfall. Die Stammgäste werden irgendwann nicht mehr sein und die jungen Leute gehen in keine Bauernstube. Dafür fehlt die Musik, der große Fernseher, auch wenn vielleicht keiner drauf schaut. Diese Entwicklung betrachtet Theo mit Sorge und Betrübnis, denn mit dem Gasthaus ginge auch ein Stück Tradition verloren.

Allerdings steckt hinter dem schwermütigen Gastwirt nicht nur der Flüchtling aus der Optionszeit, sondern auch der Theo, der auf der Bühne steht, im Scheinwerferlicht. Die Südtiroler Theaterlegende.

Seine Karriere begann 1948 dank eines Regisseurs aus Meran. Der Bekannte seiner Mutter schlug ihm vor, im Märchen „Der Däumling“ mitzuspielen. Einer der Schauspieler war krank geworden und konnte nicht auftreten.

Danach spielte er 70 Jahre Theater. Den Jedermann oder den Andreas Hofer. Er bevorzugt die Rollen, die ihm schauspielerisch viel abverlangten. 2018 bekam er vom Südtiroler Theaterverband die Urkunde für 70 Jahre Schausspielerei. Bis dahin spielte er zwischen Theater und Fernsehen ungefähr 190 Rollen. Mit Auftritten in „Verkaufte Heimat“ von Felix Mitterer, dem „Tatort“, sowie in vielen Hörspielen der RAI in Bozen.

Er war auf jeder Bühne zu finden Ob bei den Rittner Sommerspielen, dem Volksschauspiel in Algund als Andreas Hofer und Kohlebrenner oder gar im Stadttheater in Bozen. Dort stand er für die Vereinigten Bühnen Bozen bei der Eröffnung des Theaters als Graf Montague in „Romeo und Julia“ von William Shakespeare auf der Bühne. Seine letzte Rolle spielte er 2018 bei den Schlossfestspielen Meran in „Die Erbinnen“. Danach endete seine Karriere aus gesundheitlichen Gründen, obwohl sich niemand von seiner Bühnenpräsenz verabschieden wollte; nicht einmal er selbst.

Der Frage, ob man Schauspiel lernen kann oder ob es Talent sei, begegnet er mit einem nachsichtigen Lächeln. Selbstverständlich könne man Theater lernen, doch ein bisschen Talent müsse man schon mitbringen.

Früher gab es viele große Schauspieler, die keine Ausbildung hatten, er ist einer davon. Bei ihm zählte die Erfahrung und Talent hatte er genug. Sein Glück sei es gewesen, mit vielen verschiedenen Regisseuren arbeiten zu können, so habe er das Handwerk erlernt. Heute jedoch müsse man eine Schauspielschule besuchen, sonst habe man keine Chance, meint er.

Der Mann außerhalb des Scheinwerferlichts. „Theater ist sein Leben“, sagt seine Frau Germania Trojer. „Obwohl es anstrengend war, auf der Bühne zu stehen, holte er sich davon Kraft. Es hat ihm mehr gegeben hat, als er verbraucht hat“. Freilich sei es nicht leicht gewesen, Gasthaus, die Basis der Familie, und Theater zu vereinbaren, sagt sie. Denn Theater war alles für Theo Rufinatscha und wenn er nicht zuhause war, musste die Tochter, Cornelia, im Gasthaus mithelfen.

Heute erwischt Germania Theo ständig in verschiedenen Rollen. Wenn er zum Beispiel in gekrümmter Körperhaltung mit einem Stock spazieren geht oder am nächsten Tag mit geraden Rücken durch den Hof stolziert. „Natürlich hilft ihm die Stütze“, sagt sie. Das Schauspiel spiegelt sich in seinem Verhalten dennoch wider. Sie lächelt. „Man muss sich fügen“, behauptet sie.

Für sie war jedes neue Theaterstück eine Herausforderung. Die Rollen begleiten einen Schauspieler nach Hause, es bedeutet viele Proben und Abkapselung, wenn er eine neue Rolle einstudiert. In solchen Momenten schenkte Theo Rufinatscha seine ganze Aufmerksamkeit dem Schauspiel. Und stand doch täglich hinter dem Tresen, unterhielt die Gäste mit Zitaten und Anekdoten wie auf der Bühne und bracht sie zum Lachen. „Er konnte mit ihnen böse, aber auch lieb sein“, sagt seine Frau.

„Ich bedaure es sehr, nicht mehr Theater spielen zu können“, sagt Theo Rufinatscha, „jedoch lässt es mein gesundheitlicher Zustand nicht mehr zu.“ Anfangs konnte er sich keine Theaterstücke anschauen, da er sich selbst auf der Bühne sah. Ihm fehlte etwas, das vorher den größten Teil seines Lebens ausgefüllt hatte. Das Theater war Entspannung und Ausgleich zum Beruf. Zu Kopf gestiegen ist es ihm jedoch nicht. Er brachte Zweifel heim. „Ich habe immer zu ihm gesagt, dass er den Applaus von der Bühne mit nach Hause tragen soll, wenn er zu zweifeln beginnt“, sagt Germania.

Nach fast zwei Jahren Bühnenabstinenz findet er sich nun gut zurecht, das Gasthaus nimmt wieder eine größere Rolle in seinem Leben ein. Um 5 Uhr morgens beginnt er, das Frühstück für die Pensionsgäste vorzubereiten, dann stellt er sich hinter den Tresen. Zu Mittag zieht er sich zurück und lässt den Nachmittag mit einem Kreuzworträtsel vor dem Fernseher ausklingen. Jedoch bleiben die Gedanken an das Theater omnipräsent. Seine Frau erzählt: „Wenn er sich ein Stück im Fernsehen ansieht und dort ein gleichaltriger Mann mitspielt, behauptet er, dass er das ebenfalls noch könne.“

Theo sieht wie die Menschen sich verändern, wie die sozialen Medien ihr Leben bestimmen: „Die Gesellschaft bröckelt langsam auseinander.“ Und er sieht, wie sich mit den Menschen auch das Theater verändert, wie es immer abstrakter wird. Keine Türen oder Fenster mehr, die dem Spieler helfen, man findet eine sterile Bühne vor und soll die Vorstellungskraft spielen lassen. Er muss sich anstrengen, um mit dieser Veränderung klarzukommen. „Wenn Verdi sehen würde, wie seine Aida heute aufgeführt wird, mit Turnschuhen und in Alltagskleidung, würde er sich im Grab gleich zweimal umdrehen.“

Theo ist meist guter Dinge. Wenn er pfeifend durch die Gänge schweift, wirkt er jünger, als er ist. Schwache Momente in seinem Leben überstanden zu haben, macht ihn stark, Zufriedenheit brummt in seiner Brust. Nicht alle Menschen wissen, wie es ist, von vorne beginnen und sich wieder ein Leben und eine Identität aufbauen zu müssen. „Aber es war“, sagt Theo, „eine große Genugtuung, wenn man etwas erreicht hat.“ „Wenn ich über sein Leben nachdenke, bleibt mir nur Bewunderung“, sagt seine Tochter Cornelia.

Theo Rufinatischa sucht die Fernsehbedienung, er hat müde Augen, er verabschiedet uns. Seine Stimme ist ruppig und warm. Eine sonore Nachrichtensprecher-Stimme füllt die Wohnung, Theo rückt einen der Stifte zurecht. Er sagt, er tue sich manchmal schwer, sich an die Zeiten anzupassen. „Es ist schlimm zu sehen, an welcher Verschwendung wir zugrunde gehen. Ich musste mir damals mit meiner Familie ein Stück Brot teilen, um zu überleben.“

von Alida Gurschler und Juliane Wild

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  • Theo Rufinatscha Theo Rufinatscha Gurschler und Wild

Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis wurde in diesem Jahr das sechste Mal vergeben. Der Preis (ein ­Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, deutsche ­Bildungsdirektion, Bildungsausschuss Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol, in vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-Reporter Gabriel-Grüner, der 1999 kurz vor Ende des Jugoslawien-Krieges im ­Kosovo von einem russischen Söldner ermordet ­wurde.

Wir beginnen in dieses Ausgabe mit dem Abdruck der Schülerreportagen. Mit dem Porträt des Schauspielers und Gastwirts Theo Rufinatscha, das ­Juliane Wild (seine Enkelin) und Alida Gurschler verfasst haben. Beide sind Schülerinnen des klassischen Gymnasiums „Beda Weber“ in Meran. ­Gurschler (links), 18, lebt in Naturns. In ihrer Freizeit spielt sie Theater, liest gerne und arbeitet an ­eigenen Geschichten. ­Juliane Wild (rechts), 18, lebt in Meran, zeichnet und arbeitet immer an neuen Texten.

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