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Leben
Kreuz und Gebetsteppich
Aus ff 13 vom Donnerstag, den 26. März 2020
Veronika Fliri aus Mals hat Yocauba, einen Flüchtling aus Mali, bei sich aufgenommen. Wie sie gelernt haben, miteinander auszukommen.
Er isch ollm schun mein Biabl gwesn!“, sagt Veronika Fliri, während sie sich mit einem breiten Lächeln an den Küchentisch setzt. Als Yacouba vor vier Jahren nach Mals in den Vinschgau kam, mochte die 59-Jährige den jungen Migranten auf Anhieb. „Der Junge ist anständig und kann arbeiten. Er ist fleißig. Man kann ihn nicht auf der Straße lassen!“
Yacouba Coulibaly ist einer der Vielen, die 2015 die gefährliche Flucht nach Europa auf sich nahmen. Er war damals gerade 17 Jahre alt. Die Hintergründe solle uns Yacouba selber erzählen, meint Veronika Fliri und schaut auf die Uhr. Kurz vor acht am Abend fällt die Tür ins Schloss, Yacouba zieht die Schuhe aus und die Pantoffeln an. Er kommt von der Arbeit. Yacouba ist Malerlehrling.
Mit schweren Schritten geht er ins Zimmer nebenan, legt dort Jacke und Rucksack ab, es ist sein Schlafzimmer. „Eigentlich ist es unser Wohnzimmer“, erklärt Veronika, „aber ich habe kein drittes Schlafzimmer und wenn meine beiden Töchter zu Besuch kommen, bleibt nur das Wohnzimmer für ihn übrig. Aber es gefällt Yacouba so gut, dass er dort schläft, auch wenn meine Töchter nicht da sind.“
Groß und muskulös kommt Yacouba durch die Küchentür. „Hoila Yacouba“. „Hoi, wie geht’s?“, antwortet er. „Gut. Was hast du bei der Arbeit gemacht?“ „Wir waren im Passeiertal, eine leere Wohnung streichen“, antwortet er in einem fast perfekten Deutsch. „Und jetzt wirst du Hunger haben.“ Yacouba nickt kräftig.
Es gibt Nudeln. Yacouba lächelt breit. „Er ist ein Nudel-esser“, meint Veronika. Yacouba holt die Nudeln, die er sich wünscht, aus dem Küchenschrank und reicht sie seiner „Europ-Mama“. Das ist sie für ihn: eine Mama. Veronika schüttet die Nudeln in das kochende Wasser und bittet Yacouba, die selbstgemachte Soße aus der Speisekammer zu holen. Dann setzt er sich an den Tisch, auf die Bank, wo er immer sitzt, und beginnt zu erzählen.
„Ich durfte nicht mehr in die Schule, weil mein Vater gesagt hat, ich muss arbeiten im Ausland.“ Deshalb hat er mit 15 seine Heimat verlassen, Koulikoro, gut 50.000 Einwohner, im Südwesten Malis. Zuerst ging er zum Arbeiten nach Algerien, danach nach Libyen. Während er erzählt, richtet sich sein Blick meist auf den Boden. Yacouba ist schüchtern.
„In Libyen haben sie mich einen Monat ins Gefängnis geworfen, obwohl ich nichts verbrochen hatte. Eine Bande kam mitten in der Nacht, nahm mich mit und sperrte mich zu 500 anderen Häftlingen in eine riesige Halle.“
Es gab nur ein Bad für alle. Pro Tag bekam er 75 Milliliter Wasser zum Trinken. Zum Essen ein bisschen Reis, Kartoffeln oder Bananen. Die Gefangenen schliefen auf dünnen Matten. Yacouba konnte sich freikaufen: Er hatte einen Teil seines Ersparten in das Innenfutter seiner Jacke gestopft. Zuerst wollte er nach Mali zurück, aber dann entschied er sich, nach Europa zu flüchten. Er wollte zur Schule gehen, Arbeit finden und Geld für seine Familie verdienen.
Ein dumpfes Geräusch holt Yacouba aus seinen Erinnerungen. Veronika stellt den Topf mit den Nudeln auf den Tisch. „Mohlzeit“ sagt sie, erst dann darf Yacouba mit dem Essen beginnen. Während des Essens ist die Stimmung locker. Die beiden sprechen abermals über ihren Tag, später räumt Yacouba die Teller ab. Gemeinsam spülen sie ab und Yacouba räumt Teller und Besteck in die Küchenschränke. Er kennt sich aus, er ist hier zuhause.
„Yacouba wohnt seit Juli 2017 bei mir. Davor hat es lange gedauert, bis er bei mir einziehen durfte“, sagt Veronika. 2015 landete Yacouba mit einem kleinen Boot und rund 100 anderen Menschen auf Lampedusa. Beim ersten Mal musste das Boot umdrehen, weil Wasser ins Boot lief und die Menschen Angst bekamen, mit 30 Leuten weniger starteten sie ein zweites Mal in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Kurz vor der Küste trafen sie auf ein deutsches Schiff, das sie nach Lampedusa brachte.
Vier Tage verbrachte Yacouba auf der Insel, bevor er nach Bozen kam, dort blieb er drei Monate. Im September 2015 kam er nach Mals, in die dortige Flüchtlingsunterkunft, das Haus Ruben, er war der Jüngste im Haus. Veronika Fliri gab dort ehrenamtlich Unterricht für die Flüchtlinge – sie war seit drei Monaten in Pension. Sie will den Migranten Wissen und Sprache vermitteln, damit sie in Südtirol eine Chance auf Arbeit haben.
Yacouba, fiel ihr auf, legt sich ins Zeug. Er nahm Extrastunden bei Veronika und wollte schnell Deutsch lernen. Er sprach im Gegensatz zu den meisten anderen Flüchtlingen kein Englisch, nur ein bisschen Französisch. Und so brachte er Veronika in den Extrastunden immer ein paar Wörter Französisch bei, die sie dann gemeinsam mithilfe des Wörterbuches ins Deutsche übersetzten.
Er sagt; „Als ich sie zum ersten Mal sah, dachte ich, diese Frau ist gut.“
Nach ein paar Monaten intensiven Unterrichts wollte Yacouba im November 2016 anfangen zu arbeiten. Veronika sagt, ich helfe dir, wenn du nebenher auch die Berufsschule besuchst. Da Yacouba nicht in die Schule gehen wollte, ließ ihn Veronika hängen. So vergingen vier Monate. „Im Februar kam er dann zu mir und hat gesagt: Mama, jetzt ich schon Schule.“ „Die Flüchtlinge nennen mich alle Mama. Ich bin wie eine Institution“, erklärt sie.
Veronika brachte Yacouba als Lehrling in einem Malerbetrieb unter. Er musst aus dem Haus Ruben ausziehen. Mit einem Anfangsgehalt von 600 Euro im Monat, war es schwer, eine Wohnung zu finden. Veronika beschloss, ihn bei sich aufzunehmen. Yacouba hat das verdient, dachte sie.
Als sie ihren Töchtern davon erzählte, waren diese wenig überrascht. Er war eben ihr „Biabl“. Jetzt ist Yacouba fix in Mals ansässig: „Er ist ein Mitglied der Gemeinde und erhält Briefe von der Gemeinde, wie alle anderen Malser auch.“ Nun sagt auch er selbst, dass er ein Vinschger sei.
Als er bei Veronika einzog, war Yacouba überglücklich und dankbar, trotzdem dauerte es lange, bis er sich wirklich zuhause fühlte. Groß waren die Unterschiede zwischen seinem früheren Leben und dem in Veronikas Wohnung.
„Wir passen uns gegenseitig an unsere Eigenarten an“, erklärt Veronika. Für sie hat sich, seit Yacouba bei ihr wohnt, nicht viel verändert. „Meine Töchter und ich laufen am Sonntagmorgen trotzdem im Pyjama durchs Haus, daran musste sich Yacouba erst gewöhnen. Auch ich musste mich teilweise erst an seinen Lebensstil gewöhnen.“
Yacouba ist streng gläubig und betet täglich fünfmal, wie es sich im Islam gehört. Seit Yacouba bei Veronika wohnt, hat sich der Wasserverbrauch in ihrem Haushalt verdoppelt, weil er sich vor jedem Gebet gründlich waschen muss.
„Ich habe meinen Glauben, er den seinen. Das akzeptieren wir beide“, sagt sie und macht sich auf den Weg ins Wohnzimmer, also in Yacoubas Zimmer.
An der Wand hängt Veronikas „Herrgott“, auf dem Boden liegt Yacoubas Gebetsteppich: „Anfangs hat sich oft mein Kater Kimba auf den Gebetsteppich gelegt. Deshalb musste ich ihm auch einen Gebetsteppich machen, weshalb nicht nur Yacouba, sondern auch Kimba einen hat.“ Eine Hauskatze zu haben, war für Yacouba schwer verständlich, doch er hat sich daran gewöhnt. „Das ist für mich Mama-Kimba“, erklärt er mit einem Lachen. Wenn Veronika nicht zu Hause ist, kümmert sich Yacouba um den Kater und füttert ihn. So hat sie jemanden, der sich um ihre Wohnung kümmert, wenn sie verreist.
Yacouba durfte 2019 nach sieben Jahren das erste Mal in seine Heimat reisen. „In Mali habe ich geheiratet!“, erzählt er stolz, während er auf das Bild auf seinem Handy schaut. Auf dem Foto er und seine Frau, beide ganz in Weiß, sie sehen glücklich aus. Veronika wusste, dass er in Mali heiraten würde.
Seine Mutter erzählte ihm immer, sie habe eine Frau für ihn gefunden. Veronika riet Yacouba, eine gebildete Frau zu heiraten, deshalb lehnte er die Vorschläge seiner Mutter ab. Dann fiel ihm ein: „Als ich acht Jahre alt war, hat mich ein befreundetes Mädchen gefragt, ob ich sie später einmal heiraten möchte. Ich habe ja gesagt.“ Er wusste, dass dieses Mädchen zur Schule gegangen war, er nahm Kontakt auf, schrieb ihr, rief sie an. Schlussendlich hat er diese junge Frau geheiratet und ist sehr glücklich darüber. „Wenn wir einmal ein Mädchen bekommen, werden wir es Veronika nennen“, darüber sind sich Yacouba, seine Frau und seine Familie einig.
Als Yacouba wieder nach Mals zurückkam, brachte er für Veronika Geschenke aus seinem Heimatland mit. „Da habe ich gemerkt, dass auch seine Mutter dankbar ist, dass er bei mir wohnen kann“, sagt Veronika. Er schenkte ihr zwei farbenfrohe, sogenannte Wachsstoffe aus Mali, welche dort sehr wertvoll und teuer sind. Einer dieser Wachstoffe ist gelb und blau, Veronikas Lieblingsfarben. Außerdem brachte er ihr sechs Kilogramm Erdnüsse mit, welche seine Mutter von Hand sortiert und geschält hatte.
Yacouba sagt, er müsse Respekt vor seiner „Europ-Mama“ haben. Wenn er bei der Arbeit ist, fragt er nach, wie es ihr geht. „Einmal habe ich geantwortet, dass es mir nicht gut geht und ich Kopfschmerzen habe. Dann ist er nach der Arbeit schnell gekommen, um nach mir zu sehen“, erzählt Veronika.
Es ist kurz vor zehn Uhr abends. Draußen ist es dunkel geworden und für Yacouba wird es Zeit, seine Mutter anzurufen. Täglich steht er mit seiner Familie und seinen Freunden in der Heimat in Kontakt. Er lädt seiner Mutter einmal wöchentlich das Handy auf, damit sie mit ihm telefonieren kann. Meistens telefoniert Yacouba abends, manchmal bis in die Nacht hinein. „Zuerst hat Yacouba im Zimmer neben meinem geschlafen“, erklärt Veronika, „da habe ich ihn immer telefonieren gehört, denn wie viele Afrikaner redet Yacouba sehr laut am Telefon. Aber das hat mich nicht wirklich gestört.“ Oft hört er auch laut Musik, „aber seine Musik gefällt mir.“
Wenn Yacouba daheim anruft, erkundigt er sich auch über den Fortschritt beim Bau seines Hauses, er hat in Mali mit seinem Ersparten einen Grund gekauft und im Sommer angefangen, dort zu bauen. Er wird die Wohnung erstmal vermieten. Yacouba hat in Mali auch einen Raum gekauft, der als Geschäft dient. Den Laden führt sein Bruder. Sollte jemand im Dorf kein Geld für Essen haben, solle er es ihm schenken, hat Yacouba angeordnet. Diejenigen, die nicht bezahlen können, sollen dann später einmal helfen, wenn er ihre Hilfe braucht. Yacouba möchte nicht, dass irgendjemand in seinem Dorf Hunger leiden muss.
„Das ist mein Yacouba. Er ist hilfsbereit, gradlinig, ehrlich und gewissenhaft.“ Veronika weiß, dass das Zusammenwohnen auch für sie viel Gutes hat. „Ich bin nicht mehr so alleine, wir haben viel Gesprächsstoff. Zudem kann ich immer wieder Neues von Yacoubas Kultur und von seinem Glauben lernen. Die Arbeit mit den Flüchtlingen hat mein Leben bunter gemacht und das nicht wegen ihrer Hautfarbe“, sagt Veronika lachend.
Darüber kann auch Yacouba lachen. Er wird manchmal von Veronikas Töchtern scherzhaft als „unser kleiner schwarzer Bruder“ oder „our little black brother“ bezeichnet.
„Er wollte sogar einmal dafür bezahlen, dass er hier wohnen kann. Dann habe ich gesagt, du bist wie ein Kind für mich und meine Kinder müssen auch nichts bezahlen“, sagt Veronika. „Mama“, sagt Yacouba, „kocht wie in einem Hotel.“ Yacouba mag außer Polenta alles, was Veronika zubereitet. Er isst sogar gerne Käse, was untypisch für einen Afrikaner ist, am liebsten mag er Parmesankäse.
Noch weiß Yacouba nicht, ob er bleiben oder nach Mali zurückkehren will und wie lange er bei Veronika wohnen wird. Aber er weiß: „Ich bin hier glücklich.“
von Franziska Stocker
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Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis wurde in diesem Jahr das sechste Mal vergeben. Der Preis (ein Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, deutscher Bildungsdirektion, Bildungsausschuss Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol, in vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-Reporter Gabriel Grüner, der 1999 kurz vor Ende des Jugoslawien-Krieges im Kosovo von einem russischen Söldner ermordet wurde.
In dieser Ausgabe bringen wir den Text von Franziska Stocker (2003) und Anna Platzer (2002) über Veronika Fliri: Die Frau aus Mals hat einen Flüchtling aus Mali bei sich aufgenommen. Die Schülerinnen besuchen die 4. Klasse des Sprachengymnasiums in Schlanders. Anna Platzer tanzt und fotografiert gerne und spielt Saxophon, nach der Schule möchte sie Medizin studieren. Franziska Stocker hat eine Passion für Musik und Sport, sie weiß noch nicht, was sie nach der Matura machen möchte.
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