Leben

„Ich warne strikt davor!“

Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020

Philipp ­Achammer, unter anderem Landes­rat für ­Bildung: „Es musste schnell irgendetwas arrangiert werden.“
Philipp ­Achammer, unter anderem Landes­rat für ­Bildung: „Es musste schnell irgendetwas arrangiert werden.“ © Alexander Alber
 

Die Erfahrungen, die Schüler jetzt machen, sagt Bildungslandesrat Philipp Achammer, seien ungemein wichtig. Vielleicht wichtiger als irgendein Lernstoff. (Interview zur Titelgeschichte)

ff: Herr Landesrat, seit über einem Monat sind alle Schulen im Land geschlossen. Wie ­schwierig ist die Lage?

Philipp Achammer: Wir alle sind Anfang März ins kalte Wasser geworfen worden. Wir als ­Verantwortliche ebenso wie die Schüler, die Lehrpersonen und auch die Eltern. Hätte mir vor einigen Monaten noch jemand gesagt, die Schule müsste sich auf Fernunterricht einstellen, dann hätte ich ihn wahrscheinlich für verrückt erklärt.

Eine Verrücktheit, aus der bitterer Ernst wurde.

Leider, ja. Man sagt ja gerne: ohne Bindung keine Bildung. Eine gute Beziehung zwischen Schüler und Lehrpersonen ist essenziell für die Bildung. Wenn diese so wie jetzt in einer Fernbeziehung besteht, dann fordert diese von allen Beteiligten einiges ab.

Weil die Schulen in Sachen E-Learning noch ziemlich hinterherhinken?

Der Großteil der Schulen hat sich mittlerweile sehr gut umgestellt – einige waren schneller, andere langsamer, natürlich auch aufgrund der jeweiligen technischen Möglichkeiten. Ein Makel an dieser gesamten Situation ist, dass es verstärkt zu einem Selbststudium der Schüler kommen muss. Das führt automatisch zu einer Schwächung der Chancengerechtigkeit, die wir eigentlich immer gewährleisten wollen.

Der Unterricht wird jetzt ein Privileg von denen, die sich digitalisiert haben?

Wir gehen automatisch immer davon aus, dass jede Familie, jeder Schüler, zu Hause die ­digitalen Voraussetzungen hat. So ist es aber nicht. ­Vergangene Woche haben wir ­deshalb 400 Laptops angekauft, die wir über die Schulen als Leihgeräte zur Verfügung stellen werden. Wir wollen damit in erster Linie jene unterstützen, die wirklich bedürftig sind und müssen natürlich hoffen, dass sie auch damit umgehen können. Für die Zukunft müssen wir uns konkret darüber Gedanken machen, wie wir eine gute digitale Ausstattung bei allen Familien hinbekommen. Das ist für mich eine Grundsatzfrage. Und zugleich wohl eines der größten Probleme.

Sozial schwache Kinder sind in dieser Zeit ­schlichtweg mehr benachteiligt.

Das Bildungssystem hat auch in so einer Krise verschiedene Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung. Wenn ich heute sagen würde, das nächste Schuljahr findet komplett nur online statt, dann wären wir imstande, etwas Tolles auf die Beine zu stellen. So aber war das eine Aktion von heute auf morgen, es musste schnell irgendetwas arrangiert werden. Je länger man Zeit hat, auch die Form des Fernunterrichts zu planen, desto größer wird wieder die Chancengerechtigkeit.

Mag sein. Aber wir stecken jetzt in dieser Krise. Was passiert mit den benachteiligten Schülern?

Die zu erreichen, ist im Moment natürlich sehr schwierig. Wir sind aber dabei, uns auch für diese Schüler etwas zu überlegen. Ich hatte jüngst etwa eine Videokonferenz, wo wir uns zum Ziel gesetzt haben, vermehrt Formen des Coachings aus der ­Distanz zu entwickeln. Ich weiß, es wird jetzt wieder der Vorwurf kommen, dass die Schule tendenziell immer auf die Schwächeren ausgerichtet wird. Jedoch in dieser Phase sollte man aus der Not auch eine Tugend machen und die guten Schüler noch mehr in ihrer Eigenverantwortung stärken und sie in ihrem Selbststudium unterstützen und fördern.

Es wenden sich bestimmt viele Eltern und ­Schüler an Sie. Welche Ängste und Sorgen äußern sie angesichts der derzeitigen Situation?

Die erste Frage ist immer: Wird dieses Schuljahr überhaupt gültig sein? Formell wie ­substanziell. Dann kommt die Sorge hin­sichtlich der Abschlussprüfungen. Und drittens wird ­meistens die Befürchtung angesprochen, ob die ­Lern­entwicklung der Kinder auf der Strecke bleiben würde.

Wie beruhigen Sie?

Bitte nicht falsch verstehen, mir sind die ­schwierigen Situationen vieler Familien bewusst, Eltern, die rotieren zwischen Homeoffice und Homeschooling. Aber diese Situation, in der wir uns jetzt alle befinden, kann vor allem für die Schüler auch eine wichtige Erfahrung und für die Schule, ja, auch eine Chance sein. Die Chance für die Schule ist, dass man jetzt – vor allem natürlich im Oberstufenbereich – stark auf Eigenverantwortung des Schülers setzen muss. Für die persönliche Reifung kann das ein ­absoluter Zugewinn sein.

Viele Eltern fürchten, ihre Kinder werden zu Bildungs-Versagern, weil sie über längere Zeit keinen Präsenzunterricht haben.

Die Erfahrungen, die die Schüler in dieser Zeit machen, sind ungemein wichtig. Vielleicht noch wichtiger als irgendein Lernstoff. Der Umgang mit so einer Krisensituation, das Nachdenken darüber – da können Schüler wie Lehrperson ungemein viel lernen. Einige Lehrpersonen haben in den vergangenen Wochen sogar zu mir gesagt, diese Phase sei selbst der beste Lernstoff. Viele reden mit ihren Schülern auch darüber und bauen das, was gerade passiert, in ihren Unterricht ein. Das finde ich toll. Im Übrigen habe ich selten so viele Schreiben von Schülern erhalten, die sich nichts sehnlicher wünschen, als wieder in die Schule gehen zu dürfen. Auch das ist eine Erfahrung.

Inwieweit dürfen Eltern und Schüler mit ­Nachsicht rechnen, wenn sie alleine nicht alles schaffen?

Wir sind natürlich immer stark darauf angewiesen, welche Entscheidungen das römische Unterrichtsministerium trifft. Bislang sind die Aussagen und Beschlüsse mehr oder weniger ­vernünftig, auch wenn die Unklarheit nach wie vor groß ist. Niemand braucht eine Überladung zu fürchten. Alle sind sich einig, dass dies ein außerordentliches Schuljahr ist. Wir sollten nie vergessen, dass Schule eine Lebensschule sein sollte. In diesem Sinne ist dieses Semester eine unglaublich gute Lebensschule. Unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht der Fern­unterricht funktioniert.

Könnte das Ganze eine Chance sein, ein neues Bewertungssystem auf die Beine zu stellen?

Das ist für uns schon sehr lange ein wichtiges Thema, auch haben wir dahingehend schon einige Initiativen gesetzt. In der vergangenen Amtsperiode haben wir beispielsweise ein Landes­gesetz gemacht unter anderem für eine rein kompetenzorientierte Bewertung, quasi auch als Ersatz von Noten. Dieser Artikel wurde leider von der Regierung in Rom angefochten, wir mussten ihn zurücknehmen. Aber vielleicht ­werden wir künftig, aufgrund der jetzigen Erfahrung, in dieser Hinsicht mehr Offenheit auf römischer Ebene vorfinden.

Wie sollte die Bewertung in Coronazeiten stattfinden?

Ich habe immer die These vertreten, dass die 6 eines Oberschülers in Mals nicht zu vergleichen ist mit einer 6 einer Oberschülerin in Bruneck. In Zeiten von Corona erfährt diese These eine Steigerung, soll heißen: die 6 von jemandem zu Hause in Mals ist völlig anders als die 6 zu Hause in Innichen. Es braucht in dieser Situation in ­erster Linie eine qualifizierte Bewertung darüber, ob ein Auftrag, eine Prüfung gelungen ist oder nicht. Ich warne davor, Schüler dafür zu bestrafen, dass sie jetzt die Aufgaben zu Hause erledigen anstatt in der Schule zu sitzen. Wir sollten sie nicht mit Arbeitsaufträgen überladen. Und wir sollten am Ende auch nicht sagen: Pech gehabt, wenn du nicht imstande warst, dir das von zu Hause aus beizubringen, so kriegst du halt eine 5. Ich warne strikt davor! Wir alle, die im Bildungsbereich tätig sind, vor allem die Lehrpersonen, sind verpflichtet, dieser veränderten Situation auch in der Bewertung gerecht zu werden. Abgesehen davon bin ich davon überzeugt, dass es qualifiziertere Formen der Bewertung gibt als jene mit Ziffern.

Was ist mit den Abschlussprüfungen an den Mittelschulen, was mit der Matura?

Auch hier sind wir auf die Entscheidungen Roms angewiesen. Zurzeit wird als Stichtag der
18. Mai hergenommen: Da entscheidet sich, wie es weitergeht: Wird der Schulbetrieb aufgenommen, werden beide Abschlussprüfungen in abgeänderter, vereinfachter Form stattfinden. Sollte der Unterricht am 18. Mai noch nicht wieder aufgenommen worden sein, wird es nur eine mündliche Matura geben. In der Mittelschule wird der Klassenrat ein Abschlussurteil abfassen.

Die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein hatte jüngst vorgeschlagen, alle Schulabschlussprüfungen in diesem Schuljahr wegen der Coronakrise ausfallen zu lassen. Die Schüler könnten Abschlusszeugnisse auf Basis ihrer bisherigen Noten erhalten.

Ich wäre gegen so einen Vorschlag. Es wäre falsch, das Schuljahr mit dem Notenstand vom 5. März zu beenden, als der Präsenzunterricht endete. Klar, es ist eine große Herausforderung für alle. Aber man sollte in die Bewertung diesen veränderten Blick einfließen lassen: Wie entwickelt sich ein Schüler? Wie läuft es mit dem Fernunterricht? Was entsteht da alles – etwa auch an Kreativität?

Was muss die Lehre aus Corona für das
Bildungswesen sein?

Da gibt es wahrscheinlich gleich mehrere. Man sieht in dieser Situation, wie wichtig die menschliche Nähe ist – auch und vor allem im Bildungsbereich. Die Hattie-Studie spricht nicht umsonst davon, dass es unter anderem die Lehrperson ist, die zählt: „What teachers do matters“. Natürlich ist es auch jetzt wesentlich, was die Lehrperson aus der Distanz macht, wie sie mit den Schülern agiert. Aber es geht nichts über den persönlichen ­Kontakt von Schülern und Lehrern. Vielleicht liegt darin eine Chance: Dass sowohl Eltern als auch Schüler die Lehrpersonen und deren Arbeit wieder mehr wertschätzen. Viele merken erst jetzt, was eine Lehrerpersönlichkeit, was ­Präsenzunterricht eigentlich ausmacht.

Nirgendwo steht geschrieben, dass Unterricht in Klassen und durch Klassenlehrer stattzufinden habe. Aber weil die Struktur eben so gewachsen ist, macht man es halt so.

Stimmt. Jahrgangsklassen sind im Prinzip falsch. Von dem her gesehen ist die derzeitige Situation die absolute Steigerung des individualisierten Lernens. Aber natürlich auch die höchste Schwierigkeiten für die Lehrpersonen, diesen Lernprozess zu begleiten.

Geht Lernen also auch anders?

Ohne dass ich den Teufel an die Wand malen will, aber wir müssen damit rechnen, künftig öfters in solche Situationen zu geraten. Darauf müssen wir uns besser als bisher vorbereiten. Der digitale Bereich ist nur ein Mosaiksteinchen von vielen. Wie gehen wir generell mit Bewertung um? Wie können wir den Fernunterricht effizient und chancengerecht gestalten? Diese Erfahrung, die wir gerade machen, bringt für die Schule insgesamt sehr viel. Wahrscheinlich ein historischer Moment.

Wie wird es im Herbst weitergehen? Wird es da wieder möglich sein, dass beispielsweise 15 oder 20 Schüler in einem Klassenraum sitzen?

Das bleibt natürlich zu hoffen. Auch wenn ich glaube, dass wir noch lange Zeit mit Einschränkungen im gesellschaftlichen Leben rechnen werden müssen. Damit werden wir uns wohl oder übel anfreunden müssen.

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