Die Trends bei den Gemeindewahlen 2020: Titelgeschichte in ff 39/20
Leben
Anti-Körper
Aus ff 40 vom Donnerstag, den 01. Oktober 2020
Irina Angerer war schockiert, als sie sich das erste Mal in ihren Rollstuhl setzen musste. Irinas Körper will nicht wie Irina will, jetzt lernen sich die beiden neu kennen.
Heute wird ein guter Tag. Das weiß Irina Angerer, kurz nachdem sie in ihrem alten Kinderzimmer in Brixen wach geworden ist. Trotz der Schmerzen, mit denen sie auch gestern Abend wieder eingeschlafen und auch heute Morgen wieder aufgewacht ist. Die Nerven ziehen und brennen, der Kreislauf ist im Keller, Irinas Körper fühlt sich schrecklich schwer an, als würden ihn Gewichte ins Bett drücken. Trotzdem, Irina spürt schon bald nach dem Aufwachen, heute wird ein guter Tag. Heute wird sie es wahrscheinlich allein und ohne Rollstuhl bis zum Bäcker an der Ecke schaffen. In die Innenstadt nicht, aber bis zur Ecke. Immerhin.
Irina hat gerade eine richtig gute Phase, so gut ging es ihr schon lange nicht mehr. Gestern war sie sogar zweimal draußen: zweimal 20 Minuten Gassi mit Pudelwelpen Eddie, für Irina ist das ein Abenteuer.
Wenige Wochen vor dem Treffen mit ff hätte sie die Wohnung nicht verlassen können, sie hatte einen schweren Rückschlag. Warum, wissen ihre Ärzte nicht, sie wussten auch lange nicht, welche Krankheit Irina überhaupt hat.
Man sieht ihr nicht an, dass sie chronisch krank ist. In Wien, wo Irina seit sechs Jahren lebt und studiert, schüttelten die Leute den Kopf, als die 25-Jährige, immer schwarz angezogen, oft leichtes Make-up und roter Lippenstift, in der vollbesetzten U-Bahn nach einem Sitzplatz fragte.
Irina freut sich, wenn sie mit ihrem Freund Phillipp die letzten Meter zu einer Geburtstagsparty zu Fuß gehen kann und erst nach dem dritten Bier jemand fragt, zu wem eigentlich der Rollstuhl neben der Eingangstür gehört. Irina will den anderen Gästen auf Augenhöhe begegnen, das Partygespräch muss sich nicht um ihre Krankheit drehen, es braucht nicht jeder zu wissen, wie es ihr geht. Aber in der U-Bahn, da wäre das hilfreich.
Posturales Tachykardiesyndrom (POTS). Es dauerte, bis Irina die Diagnose aussprechen konnte, ohne über den Zungenbrecher zu stolpern. Die Diagnose selbst hat sehr viel länger gedauert.
Mittlerweile steht im Brixner Wohnzimmer ein dicker Ordner im Regal, in dem sie viele Seiten an Befunden und Studien abgeheftet hat.
Spricht Irina über ihre Krankheit, dann klingt das so routiniert und abgeklärt, als würde sie über die eigene Masterarbeit referieren. Man hat das Gefühl, sie schält sich aus ihrem Körper, setzt sich neben ihn hin und erklärt dann, was mit ihm los ist. Nicht mit ihr, mit ihm. Wird es persönlicher, wird der Klang der Stimme fröhlicher oder brüchiger. Dann ist ihr Leben keine Patientenakte, sondern das Leben einer jungen Frau.
„Es war der 21. Juli vergangenen Jahres, als ich aufgewacht bin und sofort wusste: Ich bin ernsthaft krank“, schreibt Irina auf dem Onlineportal barfuss.it. Es war der Beginn ihres persönlichen Lockdowns, seit dem 21. Juli lebt sie ein anderes Leben, das alte ist vorbei. Vielleicht für immer.
Irina wurde auf alles getestet, was Ärzte testen können. Vielleicht Aids? Vielleicht das West-Nil-Fieber? Vielleicht eine Folge des Atemwegsinfekts, den Irina vor Kurzem hatte? Nicht zu wissen, woran man leidet, ist eine Tortur. Es begann das, was Irina einen „Arztmarathon“ nennt, immer wieder schilderte sie ihre Symptome: Herzrasen, Schwindelgefühl, ständige Erschöpfung. Die Liste ist lang. Wenn sich Irina bewegt, dann fühlt sich das für sie an, als würde sie unter Wasser gehen. Es fällt ihr schwer, aufrecht zu bleiben, das Blut versackt in den Beinen. Im Januar 2020 war die Diagnose dann definitiv.
Bei POTS funktioniert das autonome Nervensystem nicht, das Immunsystem, die eigenen Antikörper, richtet sich gegen einen selbst. Der Körper kann den Kreislauf nicht regulieren, wenn Irina aufsteht, dann glaubt er, Irina würde gerade einen Berggipfel besteigen; dabei möchte sie bloß einen Kaffee machen.
Es sind vor allem junge Frauen, die an POTS erkranken. Oft wird die Krankheit als Hysterie abgetan, den Patientinnen die Psychiatrie empfohlen. Irina hat das alles erlebt. POTS ist wenig erforscht.
Irina ist eine kritische, reflektierte Frau, sie hat Fragen und will Antworten, liest sich durch Studien, hält Kontakt zu anderen Betroffenen. Auf Twitter erzählt sie ihre Geschichte, lässt andere teilhaben an ihrem Leben. Sie will kein Mitleid, sie will informieren. Und etwas Abwechslung.
Als sie krank wurde, wurde sie hart „aus der besten Zeit meines Lebens“ gerissen. Sie musste aus ihrer WG ausziehen, das Studium abbrechen, sich von Freund und Freunden verabschieden. Ihre Eltern brachten sie nach Hause – vom Wiener big city life zurück ins Brixner Kinderzimmer. Werde ich je wieder tanzen können? Spazieren gehen? Im Café sitzen und lesen? Bei einer Demo dabei sein? Für POTS gibt es keine eindeutige Therapie, die Chance auf Heilung ist gering.
Während die anderen draußen ihr altes Leben weiterlebten, im Hörsaal saßen, Geburtstage feierten, sich an der Donauinsel sonnten, musste sie sich in ihrem zweiten einrichten. Die ersten vier Monate im Bett. Eltern, Schwester, Freund Phillipp und Freunde in Brixen und Wien unterstützten sie, besuchten sie, begleiteten sie zum Arzt. Als Freunde ihren Rollstuhl mit Blumen verzieren wollten, sagte sie aber Stopp. Sie will nicht noch mehr auffallen. Mittlerweile hat sie sich mit dem Rollstuhl arrangiert, sie braucht ihn, sie darf sich nicht überanstrengen.
Irina ist ein politischer Mensch. Jetzt noch stärker als vorher, sagt sie. Auf dem Zeigefinger der linken Hand hat sie sich das Venussymbol tätowieren lassen, das Gender-Symbol für Frau. Sie fühlt sich von der Gesellschaft behindert: behindert, ihr Studium weiterzuführen, behindert, zu arbeiten. Irina war früher schüchtern und konfliktscheu. Harmoniebedürftig ist sie noch immer, aber sie hat kein Problem mehr, ihre Meinung zu sagen. Vor einigen Tagen fragte ein älterer Herr im Aufzug ihren Freund Phillipp, was denn die junge Frau neben ihm habe. Er fragte ihn, nicht sie. „Wow“, dachte sich Irina.
Zu Beginn der Krankheit war sie verzweifelt, weinte viel. Warum ich?, fragte sie. Es gab viele schlechte Tage. Ein schlechter Tag heißt von anderen abhängig zu sein, nichts selbst machen zu können, ein schlechter Tag ist, wenn Irina es nicht schafft, allein die Wäsche aufzuhängen. Es sind Tage, an denen außer Netflix und Podcasts nichts geht, die Selbstständigkeit an der Bettkante endet.
Ein Jahr lang hat Irina getrauert. Was ist mein Leben noch wert, hat sie sich gefragt, fühlte sich hilflos. Eine Gesprächstherapie hilft. Sie hat sich etwas eingerichtet im neuen Leben, ist ruhiger, weint weniger. Es geht ihr besser. Seit März wohnt sie teilweise wieder in Wien, jetzt gemeinsam mit Phillipp.
Mitte August der Rückschlag. Nach einer Therapie, Irina bekommt alle fünf Wochen Infusionen mit Antikörpern von Plasmaspendern, ging es ihr wieder sehr schlecht. Eigentlich wollte sie mit Phillipp für einige Tage an den Gardasee oder in die Toskana fahren. Endlich etwas Abwechslung, aber nein. Sie war tief enttäuscht.
Hund Eddie versöhnt sie wieder. Während sie spricht, hat sich Eddie unter dem Küchentisch auf den Rücken gelegt und möchte gekrault werden. Seit zwei Wochen gehört der Fleisch gewordene Staubwedel zur Familie. Irina hat Lust auf einen Hund und sie hat Zeit. „Ich plane für die nächsten Jahre keine Weltreise oder 12-Stunden-Arbeitstage“, sagt sie. Es ist der trockene Humor eines Menschen, der wirklich weiß, was ein schlechter und ein guter Tag, was wichtig und unwichtig ist, was neue Normalität tatsächlich bedeutet.
Sie weiß nicht, wie es ihr in einem halben Jahr gehen wird. Oder in zehn Jahren. Aber sie hat einen Wunsch: Sie will unbedingt weiterstudieren. „Ich brauche ein Ziel. Sonst wird man kirre.“ Wenige Tage nach dem Gespräch mit ff wird Irina eine Mail von der Uni Wien bekommen, sie kann online an Seminaren teilnehmen.
Nach dem Treffen ist sie etwas müde und legt sich hin, ihre Schwester führt Eddie Gassi. Am Nachmittag will sich Irina mit einer Freundin beim Bäcker um die Ecke treffen. Bei dem gibt es Mandelmilch und er ist ohne Rollstuhl erreichbar. Und am Abend wird sie sich dann ins Bett kuscheln.
Es ist ein guter Tag.
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Kurzbio
Irina Angerer, 25, ist nach der Matura von Brixen nach Wien gezogen. 2018 schließt sie das Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaften ab und absolviert in Salzburg das Kolleg für Journalistenausbildung. Parallel studiert sie Politikwissenschaften. Im Sommer 2019 erkrankt sie. Für Irina Angerer beginnt ein Arztmarathon und eine sehr schwere Zeit. Es dauert, bis die Diagnose feststeht: POTS (Posturales Tachykardiesyndrom), eine wenig erforschte Autoimmunerkrankung. Derzeit geht es ihr etwas besser, ob sie je geheilt werden kann, weiß aber niemand. Für ihre Krankheit gibt es noch keine Therapie.
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