Leben

„Noch einen Weg gehen“

Aus ff 47 vom Donnerstag, den 25. November 2021

Eva Terberger und Rainer Seberich
1960 haben Eva Terberger und Rainer Seberich geheiratet, sie begegneten einander auf der Schlernhütte: „Eine Liebe bleibt beständig, wenn man sich weiterentwickelt.“ © Thomas Wiedenhofer
 

Rainer Seberich und Eva Terberger sind beide 90 und seit 61 Jahren verheiratet.Was sie zusammenhält, was sie unterscheidet und was man in ihrem hohen Alter noch hoffen kann. Text: Astrid Kofler | Fotos: Thomas Wiedenhofer

Soeben ist sie vom Mittagsschläfchen erwacht, er hilft ihr auf, hilft ihr in die Schuhe. Ich bleibe hier sitzen, sagt sie und plaudert und singt munter drauflos. Eva, bitte, sagt er, mit einem Anflug von Müdigkeit, man kann nicht zwei Sachen zugleich machen. Ist das nicht schön, dass wir zwei gemeinsam in ein Buch kommen, fragt sie ihn.

Eva Terberger: Wo habe ich meinen Rollator? Können Sie ihn mir herstellen? Danke. Dann gehen wir doch gleich zum Klavier. Wir musizieren täglich. Ich spiele und er singt. ­Volkslieder. Das machen wir zusammen jeden Tag, heute ­Morgen auch schon. Das haben wir immer gemeinsam machen können.

ff: Sie sind keine gebürtige Südtirolerin, das hört man noch ein wenig an Ihrer Sprachfärbung.

Eva Terberger: Ich bin aus Hannover.

Sie müssen mir erzählen, wie es Sie hierher verschlagen hat.

Eva Terberger: Das ist besonders schön.

Rainer Seberich: Setzen wir uns doch in die Bibliothek, zu den Tirolensien.

Da gibt es ja viele Bücher, ein paar Meter lang, sieben Regale …

Rainer Seberich: Das sind die Grundzüge der Geschichte des Landes Tirol. Ich habe alles, was mit Tirol zu tun hat. Alle Hefte der Zeitschrift „Der Schlern“.

Die Betreuerin klopft an die Tür und fragt, ob sie Kaffee kochen soll oder lieber Tee. Dazu wird es Kuchen geben. Kaffee und Kuchen, das gibt es bei den Seberichs jeden Nachmittag. Rituale sind wichtig, sie geben dem Alltag einen Rahmen. Vertraute Abläufe ordnen Raum und Zeit, bieten Haltepunkte und Strukturen, erlauben, sich in Zwischenzeiten dahingleiten zu lassen.

Rainer Seberich: Das ist meine letzte Arbeit für den Schlern. „Von Misstrauen verfolgt. Die Italiener im Ersten Weltkrieg“

Arbeiten und forschen Sie denn noch immer fleißig?

Rainer Seberich: Nein, fleißig nicht mehr, nicht mehr so wie früher. Aber ich habe noch sehr viel vor.

Eva Terberger: Auf dem Ölbild hier ist der Vater vom Rainer.

Ab und zu fallen sie sich ins Wort, erinnern sich aufgrund irgend­eines Wortes an etwas, das hierher gehört, auch wenn es nicht in den Faden der Erzählung passt.

Rainer Seberich: Mein Vater war Offizier. Er war von 1913 bis 1920 beim österreichischen Militär. Auch er war Historiker. Er hat Feldkarten gezeichnet. Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, gehörte Tante Paula Seberich, der Schwester vom Vater. Sie hatte es gekauft, es war ihr Haus. Sie ist jung gestorben, kinderlos. Das hier ist mein Schreibzimmer. Das hier ist meine erste Zeichnung aus Schulzeiten. Geboren bin ich in Mühlheim an der Ruhr. Mein Vater hat dort am Kohlenforschungszentrum gearbeitet. Mein Vater ist 1891 in Dubrovnik geboren, weil sein Vater dort Landwehrkommandant war. Die Großmutter Anna Karoline Hartner stammte aus Klagenfurt, der Großvater Michael Seberich war aus Triest. Sein Vater Anton Seberich, also mein Urgroßvater, stammte aus Maribor, aus Marburg an der Drau. Das ist das heutige Slowenien.

Und wie kamt ihr nach Südtirol?

Rainer Seberich: Meine Großmutter Anna Karoline Hartner war in erster Ehe mit einem Grafen von Brojatsch ­verheiratet, im Turmweg Nr. 5 in Bozen hat sie damals als Gräfin von Brojatsch eine Gäste­pension geführt, Wickenburg hat das geheißen. Das war beim Gscheibten Turm, wo man Richtung Jenesien fährt. Von ihrem späteren zweiten Ehemann hatte sie zwei Kinder, die Tante Paula und meinen Vater Richard. Der ist schon hier in Bozen aufgewachsen, sein Vater ist als Angehöriger des Militärs wohl hin- und hergefahren. Nachdem das Habsburgerreich nach dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochen war und viele arbeitslos waren, hat er sich nach Bozen zurückgezogen. Meine Tante Paula hatte später bevorzugt, in Völs zu wohnen. 1944 war ich dort auf Sommerurlaub ohne meine Eltern, sie waren in Deutschland verblieben. Mit den allgemeinen Wirren des Zweiten Weltkrieges war plötzlich kein Kontakt mehr möglich, die Grenzen waren zu, kein Telegramm, kein Telefon. Ich war damals 13. Meine Eltern konnten nicht herein und ich nicht hinaus. So schrieb mich die Großmutter ins Franziskanergymnasium ein und nach dem Krieg, 1945, zogen die Eltern hierher. Mein Vater hatte eine schwere Schussverletzung am Hals überstanden. Meine Mutter, Hedwig Kerschbaumer, war eine Bozner Bäckerstochter. Ihre Mutter war eine Überbacher aus Bozen, ihr Vater stammte aus St. Peter bei Lajen. Mein Vater und meine Mutter sind unabhängig voneinander nach Mühlheim zum Arbeiten aufgebrochen und haben sich dort kennengelernt und geheiratet. Ich war das einzige Kind. Meine Mutter war bereits 42 Jahre alt, mein Vater drei Jahre jünger. Ihr Vater, also mein Großvater mütterlicherseits, hatte, ohne je Musik studiert zu haben, so ein gutes Gehör und so ein Gedächtnis, dass er ein Stück nach Gehör für alle Instrumente einer ganzen Kapelle niederzuschreiben vermochte. Etwas Musisches haben wir alle von ihm geerbt. Auch meine Kinder sind musisch veranlagt, meine Tochter Sigrid hat unter anderem rhythmisch-musikalische Erziehung studiert, das kann sie als Clown gut gebrauchen. Mein Sohn Michael ist erfolg­reicher Tontechniker.

Eva Terberger: 1943 wurde Hannover von den Engländern bombardiert und ziemlich zerstört. Ich habe in einem kleinen Ort in der Nähe von Hannover meine Schulen fertig gemacht. Das war 1950. Und anschließend Musik und Mathematik an der Uni Hannover studiert. Nach dem Krieg war das wieder möglich.

Die beiden erzählen gleichzeitig, sie ein wenig, er ein wenig. Aus irgendeinem Zusammenhang gerissen, ohne Auftakt. Der eine verpasst den Einsatz des anderen. Es ist wie eine beliebige Playlist, einmal kommt dieses Lied, dann jenes. Die Verbundenheit zwischen ihnen ist eine stille, die Vernetzung ihrer Töne komplex. Hörbar wird sie, wenn sie gemeinsam musizieren. Dann finden sie einen gemeinsamen Rhythmus, eine Weltsprache, die alle verstehen, dann werden ihre Lebensadern zu Melodien und im Refrain vereinigen sie sich harmonisch, auch wenn Rainer Seberichs Singstimme mit 90 nicht mehr jene ist, die sie vor Jahren war.

Eva Terberger: Im Sommer machte ich immer Ferien. Zuerst an der Nordsee, das ist bei uns eher in der Nähe. Und einmal fragte mich meine Freundin, ob wir nicht nach Tirol fahren möchten, zum Wandern. So fuhren wir nach Tirol. Und im Jahr darauf fuhr ich nach Südtirol, weil es mir so gefiel. Das war im Sommer 1957. Ich wanderte über die Seiser Alm und von dort auf das Tierser Alpl und dann weiter auf den Schlern. Am Schlernhaus klopfte ich an, weil ich dort übernachten wollte, und dann hörte ich eine Stimme: Ich bin doch überall im Weg. Und der, der das sagte und da im Weg stand, hat mir dann die Tür aufgemacht und mich hereingelassen. Und diesen Menschen habe ich dann geheiratet. Wir haben uns an dieser Treppentür zum Schlernhaus kennengelernt. Er wohnte in Völs und war von Völs heraufgestiegen. Wir haben uns gemeinsam an einen Tisch gesetzt und geplaudert. Er war Lehrer, ich war Lehrerin und wir hatten viele gemeinsame Lieder.

Rainer Seberich: Wir haben viele Lieder gemeinsam gekannt. Ja, so war es.

Eva Terberger: Jedenfalls sind wir dann zusammengeblieben. Sozusagen. Wir haben zusammen zu Abend gegessen und festgestellt, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben.

Und warum sagten Sie, ich bin doch überall im Weg?

Rainer Seberich: Das ist nicht so wichtig. Ich bin über den Schäufelesteig auf den Schlern gegangen, ich war vollkommen nass. Eigentlich wollte ich mit jemandem gehen, bin dann aber alleine gegangen. Das ist jetzt zu kompliziert. Dass ich überall im Weg bin, hat sich so ergeben.

Wann spürten Sie, dass das die Frau Ihres Lebens ist? Am selben Abend noch?

Rainer Seberich: Ja, wahrscheinlich. Ich habe sie schon vorher gekannt.

Eva Terberger: Du hast mich vorher gekannt? Ich habe dich vorher nicht gekannt.

Rainer Seberich denkt nach, es ist, als würde er in der Bibliothek seines Kopfes das Buch suchen, in dem die Erinnerung an die erste Begegnung historisch festgeschrieben steht.

Eva Terberger: Du kannst höchstens sagen, dass dein Vater vorher in Hannover an der Hochschule gearbeitet hat. Du kannst sagen, dass du Hannover gekannt hast. Also ich jedenfalls habe ihn nicht gekannt. Ich wollte nur gerne zur Tür hinein.

War es für Sie Liebe auf den ersten Blick?

Eva Terberger: Nein, das nicht. Aber eine gewisse Freundschaft war ab dem ersten Moment da, sonst wären wir nicht gemeinsam zum Essen gegangen, beide Lehrer, beide mögen wir Musik. Und dann sagten wir, gehen wir morgen doch gemeinsam weiter.

Rainer Seberich: Das ist natürlich sofort in Bozen bei den Kollegen aufgefallen, dass ich jetzt mit jemand anderem wandern gehe.

Eva Terberger: Ich bin dann wieder zurückgefahren nach Hannover. Ich hatte ja nur Sommerferien von der Schule, wo ich unterrichtet habe. Im selben Herbst kam dann Rainer auf Besuch und wir wanderten gemeinsam in der Lüneburger Heide, nachdem wir in Südtirol die ganze Zeit gemeinsam gewandert waren.

Und so hat sich die Liebesgeschichte entwickelt.

Rainer Seberich: Ich glaube, das ist jetzt wirklich nicht so wichtig.

Eva Terberger: Für mich ist das sehr wichtig.

Immerhin ist sie Ihretwegen hierhergezogen und ihr kümmert euch jetzt umeinander.

Rainer Seberich: Ja, so ungefähr.

Ist über Gefühle zu reden mehr Frauensache?

Eva Terberger: Ich glaube ja.

Rainer Seberich: Ich weiß selber nicht.

Eva Terberger: Das ist etwas, das müssen wir unter uns beiden ausreden. Ich habe dann meiner Direktorin gesagt, ich verlasse die Schule, ich heirate nach Südtirol. Und sie war entsetzt.

Rainer Seberich: Was? Was hast du?

Eva Terberger: Das habe ich dir ja erzählt. Sie war entsetzt.

Und wann haben Sie geheiratet?

Eva Terberger: 1960.

So spät erst? Was haben Sie die drei Jahre dazwischen getan?

Eva Terberger: Ja, vielleicht war das auch erst ein Jahr später, dass ich festgestellt habe, dass wir heiraten, oder besser, dass wir festgestellt haben, dass wir heiraten.

Rainer Seberich: Es war sehr kompliziert, die Instrumente hereinzubringen, den großen Flügel.

Jetzt trinken wir einmal den Kaffee, sagt Rainer Seberich, wo ist er denn? Er lächelt, irgendwie schrullig, ein liebenswerter Kauz, tief unter den Brauen graublaue Augen.

War er ein fescher Mann?

Eva Terberger: Jedenfalls hat es mir gepasst, dass er auch Lehrer war. Und dass wir so vieles gemeinsam hatten.

Rainer Seberich: Jedenfalls eines ist sicher. Die Inhaberin des Hauses, die Tante Paula, wollte studieren, sie durfte aber nicht, weil meine Großmutter sie brauchte. Die Frage war dann, ob sie ihre Ersparnisse in die Heizung des Bozner Hauses stecken sollte oder sich selber ein Quartier suchen wollte. Und da hat sich die Tante Paula durchgesetzt und hier das Haus in Völs gekauft. Tante Paula war ledig. Mein Vater war derweil in Deutschland. Meine Mutter war Krankenpflegerin und wollte einmal weg von hier und ist so nach Mühlheim gekommen, wo sie meinen Vater kennenlernte.

Eva Terberger: Wir haben drei Kinder, Sigrid ist die erste, die Tochter Waltraud ist die Jüngste, sie ist an Krebs gestorben, und dazwischen war der Michael.

Rainer Seberich: Als die Kinder klein waren, blieb Eva zu Hause. Später unterrichtete sie Mathematik und Naturkunde in der Mittelschule von Kastelruth.

Eva Terberger: Da, wo der Rainer Direktor war. Rainer war Historiker wie sein Vater.

Rainer Seberich: Ich bin von meinem Vater her immer zur Geschichte angeregt worden. Jene um Dubrovnik interessiert mich ganz besonders.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Zeitgeschichte, die jüngste Zeit?

Rainer Seberich: Die Politik ist im Augenblick ein großes Durcheinander. Es ist, auf Deutsch gesagt, ein Sauhaufen.

Wo? In Südtirol? In Italien? In Europa?

Rainer Seberich: Allgemein.

Ist es schwierig, mit einem Historiker verheiratet zu sein, der so viel forscht und mitunter in den Wolken zu sein scheint?

Sie lacht.

Rainer Seberich: Nein. Wir kommen gut aus. Sie hat gelernt, Südtiroler Speisen zu kochen, auch Knödelmachen hat sie gelernt.

Eva Terberger: Morgens habe ich ihn immer gefragt, möchtest du ein anständiges Mittagessen haben oder einen guten Unterrichtsbericht? Er war ja mein Schuldirektor.

Rainer Seberich: Ich war nie despotisch. Im Gegenteil. Ich musste das tun, was sie sagte.

Der Kaffee wird kalt, sagt die Betreuerin leise. Das Ehepaar Seberich wohnt alleine, seit vier Jahren jedoch haben sie eine Betreuerin und seit Kurzem auch einen Betreuer, die sich abwechselnd um sie kümmern. Wir haben hier kaum noch Platz, sagt Rainer Seberich, zu viele Bücher; wir haben ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, ein Musikzimmer, zwei Schlafzimmer und Katzen. Jetzt haben wir genau genommen nur mehr eine Katze, Mura. Im oberen Stock wohnt Tochter Sigrid, irgendjemand ist immer hier. Es gibt Marmorkuchen und Schlagsahne, Bohnenkaffee und Gerstenkaffee. Davon kann man viel trinken, sagt Rainer Seberich, der macht keinen Schaden.

Wenn man sich dessen bewusst wird, dass im Alter manches kompliziert wird, dass man sich nicht mehr an Details und Zusammenhänge erinnert, ist es schwierig, dies anzunehmen?

Rainer Seberich: Das ist normal. Abgesehen davon, dass ich mich nicht als gescheit einstufen lasse. Es ist eine ­Überheblichkeit, sich selbst als gescheit zu bezeichnen.

Eva Terberger: Das Bild dort drüben ist von der Waltraud.

Rainer Seberich: Von den Großvätern haben wir das ­Musikalische geerbt. Unsere Tochter Waltraud hatte aber auch etwas Künstlerisches. Sie war bildende Künstlerin. Unsere zwei Enkeltöchter Ariadne und Daphne haben auch viel mit Kunst zu tun, die eine macht Kostüme und Bildhauerei und ­Übersetzungen, die andere tanzt.

Eva Terberger: Es ist schlimm, wenn man ein Kind verliert. Waltraud war lange krank. Jetzt ist es fast zehn Jahre her, dass sie an Krebs gestorben ist. Das zog sich jahrelang hin. Sie war 45, als sie starb. Ihr Witwer besucht uns ab und zu.

Rainer Seberich: Im Jahr 2000 war meine Schulklasse noch vollzählig da, aber jetzt langsam werden es immer weniger.

Eva Terberger: Es gibt eine gute Zeitschrift, da kann man immer etwas nachlesen über das Altwerden. Ich meine das Katholische Sonntagsblatt, es enthält immer ein gutes Wort für Menschen, die am Sterben sind.

Empfinden Sie sich denn als Mensch, der am Sterben ist?

Eva Terberger: Ja und nein. Ich bin noch hier auf Erden. Aber ich bin in Verbindung mit dem, was im Himmel passiert. Ich bin immer in Verbindung mit Vater, Sohn und dem Heiligen Geist. Ich bete morgens das Vaterunser. In diesem Gebet sind Himmel und Erde gut verbunden.

Ist Altwerden ein Geschenk?

Eva Terberger: Mit dem Altwerden bekommt man ein neues Gefühl. Das kann man gewissermaßen als Geschenk sehen. Ich bin schon in Verbindung mit oben und ich bitte jeden Morgen um gute Kraft, um den Tag zu bewältigen.

Spüren Sie diese Verbindung jetzt im Alter intensiver?

Eva Terberger: Das hat sich vermehrt. Aber eine Verbindung war immer schon da. Selbstverständlich hatten wir eine christliche Erziehung, da ist es einerlei, ob sie evangelisch war oder katholisch. Ich bin ja ­evangelisch erzogen worden, meine Eltern waren evangelisch.

Sind Sie zum Katholizismus übergetreten, um zu heiraten?

Eva Terberger: Die standesamtliche Hochzeit war noch in Hannover, es war einfacher so, damit das Gepäck, die Instrumente, problemlos über die Grenze kamen. ­Später haben wir in Südtirol in einer katholischen Kirche ­geheiratet, nachdem ich zum Katholizismus übergetreten war. Für mich war das nichts Schlimmes. Mein Vater war evangelisch-reformiert. So habe ich drei Formen erlebt: evangelisch-reformiert, normal evangelisch und katholisch. Gott ist überall.

Sind Sie auch gläubiger geworden im Alter?

Rainer Seberich: Ich lass mich überraschen, was danach kommt.

Eva Terberger: Ich bin mit oben in Verbindung.

Rainer Seberich: Was danach kommt, das wird man schon sehen. Im Augenblick bin ich jeden Tag zufrieden, wenn ich gut geschlafen habe. Ich brauche oft lange zum Einschlafen.

Eva Terberger: Ich bitte den lieben Gott jeden Tag um Kraft für den Tag.

Rainer Seberich: Von der standesamtlichen Hochzeit muss ich Ihnen noch eine lustige Geschichte erzählen. Wir haben nicht mehr gewusst, wie der Standesbeamte geheißen hat, der uns getraut hat. Da hat der Funktionär in der Deutschen Botschaft gesagt, in Deutschland heißen alle Müller, Maier oder Schulze, und hat die Unterschrift des Herrn Schulze beglaubigt. So hieß er bestimmt nicht.

Im Musikzimmer, in dem sich Musikbücher, Noten und andere Bücher auf den Regalen stapeln, setzen sich die beiden an den Flügel. Sie spielt Klavier, er singt: Die Gedanken sind frei. Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke! Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei!

Rainer Seberich: Das ist ein Liebeslied, Verfasser unbekannt. Früher haben wir weniger gemeinsam musiziert, jetzt im Alter täglich.

Eva Terberger: Vor allem, weil wir gleich alt sind, fühlen wir zwei uns schon sehr frei. Das Alter befreit. Vieles hat keine Wichtigkeit mehr. Man kann das einfach genießen, dass man sich an den Flügel setzt und sonst an nichts denken muss.

Sie spielen das alles auswendig?

Eva Terberger: Diese alten Lieder kann ich alle auswendig. Ich könnte das sowieso nicht mehr lesen. Ich sehe die Noten nicht mehr.

Rainer Seberich: Ich habe ein bisschen Klavier und Orgel gespielt. Aber niemals so gut wie die Eva. Hier, bitte schauen Sie sich das an, das finden Sie nicht so leicht: Ich habe hier das Original des Tiroler Liedes „Wohl ist die Welt so groß und weit“ mit dem Originalfoto von Karl Felderer.

Das ist schön, dass ihr mitsammen musizieren könnt.

Rainer Seberich: Das Langzeitgedächtnis funktioniert im Alter eher besser, das Singen bleibt. Es kann aber passieren, dass ich nicht mehr weiß, was ich heute Mittag gegessen habe. Jetzt singen wir für euch noch ein Lied. Ganz kurz. „Wahre Freundschaft soll nicht wanken.“ Das ist auch eine alte Volksweise.

„Keine Ader soll mir schlagen, wo ich nicht an dich gedacht; für dich werd ich Liebe tragen bis in tiefe Todesnacht. Wenn der Mühlstein traget Reben und daraus fließt süßer Wein, wenn der Tod mir nimmt das Leben, hör ich auf, dein Freund zu sein.

Im Stillen werd ich Tränen weinen und träumend dir zur Seite stehn, und seh ich Gottes Sonne scheinen, werd ich für dich um Segen flehn.“

Ist Freundschaft die Basis einer guten Ehe?

Rainer Seberich: Das ist selbstverständlich.

Eva Terberger: Selbstverständlich für uns.

Wie bleibt eine Liebe beständig?

Rainer Seberich: Indem man den Veränderungen ­Rechnung trägt. Dass man sich weiterentwickelt. Aber eben auch ­gemeinsam und nicht nur jeder in eine andere Richtung.

Eva Terberger: Dass man sich gemeinsam verändert.

Rainer Seberich: Freundschaft ist wirklich sehr wichtig. Wir haben getrennte Schlafzimmer, weil der eine lieber früher einschläft, der andere noch gerne lange liest.

Eva Terberger: Wir können uns aber durch die offene Tür unterhalten.

Rainer Seberich: Jetzt schauen wir aufeinander, so gut wir es vermögen. Unsere Betreuerin kümmert sich um uns. Und natürlich auch die Sigrid. Bis vor zwei Jahren sind wir noch viel gemeinsam gewandert.

Eva Terberger: Aber jetzt geht das mit den Füßen nicht mehr so gut.

Rainer Seberich: Früher war ich viel in Bozen, in der ­Landesbibliothek, zum Forschen. Jetzt komme ich nicht mehr so oft nach Bozen. Ich kann nicht mehr allein weg­gehen. Jetzt muss ich mich fahren lassen. Bis vor zwei Jahren, bis 87, bin ich noch selbst allein mit dem Auto gefahren. Ich bekomme jetzt nur mehr für ein Jahr den Führerschein und das lohnt sich nicht. Aber man kann sich daran gewöhnen, dass man nicht mehr alles kann.

Habt ihr zwei einen Wunsch?

Rainer Seberich: Ich wünsche mir gar nichts mehr.

Eva Terberger: Ein gutes Zusammenleben.

Rainer Seberich: Vielleicht können wir noch einmal etwas gemeinsam unternehmen, aber das kann ich jetzt noch nicht sagen.

Eva Terberger: Vielleicht können wir noch einen Weg gemeinsam gehen.

Rainer Seberich: Einen Ausflug irgendwohin machen.

Eva Terberger: Vielleicht kann man gemeinsam den letzten Weg gehen.

Rainer Seberich: Jetzt spielen wir noch ein Musikstück für euch.

weitere Bilder

  • Rainer Seberich und Eva Terberger Alles wird gut Rainer Seberich, 90

Der Band, aus dem wir das Gespräch mit Rainer Seberich und Eva Terberger abdrucken, enthält 28 Porträts in Interviewform von Menschen, die schon über 90 sind. „Alles wird gut“ (Editon Raetia 2021, 456 Seiten, 35 Euro) ist schon der zweite Band der Gesprächsreihe von Astrid Kofler (56, Journalistin, Filmemacherin und Autorin), mit den Fotos von Thomas Wiedenhofer. Eva Terberger und Rainer Seberich (beide 1931 geboren) leben in Völs, gemeinsam haben sie unter anderem den Beruf. Er Lehrer und später auch Leiter der Mittelschule Kastelruth, sie Lehrerin an seiner Schule. Rainer Seberich ist auch Autor der „Südtiroler Schulgeschichte. Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz“ (Raetia 2000).

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