die Angst vor dem Wolf ist fast so groß wie die Faszination für ihn. Wo immer sich ein Wolf zeigt, melden sich Menschen, die für ihn schwärmen, ...
Leitartikel
Alles, was geht?
Aus ff 10 vom Donnerstag, den 09. März 2017
Wie weit darf man gehen, um sich einen Kinderwunsch zu erfüllen? Es wäre höchst an der Zeit für einen ehrlichen gesellschaftlichen Diskurs – abseits jeglicher Stigmatisierungen.
Die jüngste Entscheidung des Berufungsgerichts in Trient zur Anerkennung der gemeinsamen Elternschaft eines schwulen Paares per Leihmutterschaft zeigt: Die Fragen rund um das Thema Familie werden komplizierter – weil familientechnisch eine Art Revolution stattfindet. Erstens der Vormarsch der gleichgestellten Partnerschaften, zunehmend akzeptiert, wenn auch von Staat zu Staat unterschiedlich. Zweitens die Vielzahl an Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin. Samenspende, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft: Die modernen Fortpflanzungstechnologien führen zu Familienformen, die es vor 30 Jahren noch nicht gab, und erzeugen Druck auf Rechtsordnung und Politik. Nur in einem Punkt gibt es noch Zurückhaltung und Unsicherheit: Homo-Paaren Elternrechte zu geben.
Aber auch das könnte sich nun langsam ändern, wie das Trentiner Urteil zeigt. Homosexuelle oder heterosexuelle Paare, die sich ihren Kinderwunsch nicht auf natürlichem Weg erfüllen können, können sich nur im Ausland eine Leihmutter suchen. Das italienische Gesetz verbietet „Handel mit Eizellen oder Embryonen“ ebenso wie die Organisation oder Realisierung einer Leihmutterschaft.
Das Trentiner Urteil sorgt im katholischen Italien sowie im heiligen Land Tirol für eine entsprechend emotionale Debatte, wieder einmal. Dabei könnte es der Politik neue Freiräume öffnen. Es könnte auch Anlass sein für einen ehrlichen gesellschaftlichen Diskurs zum Thema und eine ernsthafte Auseinandersetzung damit.
Es ist zu billig und greift zu kurz, in solchen Momenten das konservativ-traditionelle Familienbild als das einzig wahre hochzuhalten. Im 21. Jahrhundert sollten wir so weit sein, mit Stigmatisierungen von Familienmodellen abseits der klassischen Familie aufzuhören. Schwule und Lesben, die heiraten und Kinder adoptieren wollen, sind eine Minderheit. Der Umgang mit ihnen zeigt, wie aufgeklärt und freiheitlich jeder Einzelne und somit die Gesellschaft als Ganzes ist.
Unsere Gesellschaft wird sich künftig noch stärker mit Kindern aus der Fortpflanzungsindustrie, mit Leihmütterschaften und Samen- und Eizellendepots auseinandersetzen müssen. Auch weil es immer Frauen und Männer geben wird, die im erfüllten Kinderwunsch ihr Glück sehen.
Wir sollten uns mit Fragen konfrontieren wie: Wie weit darf man gehen, um sich einen Kinderwunsch zu erfüllen? Oder: Welche Form der Familiengründung ist noch akzeptabel und welche nicht? Die Leihmutterschaft ist dabei sicher eines der letzten Tabus. Es ist verständlich, dass dieses Thema Ängste weckt. Ethische Probleme aber lassen sich weder mit tabubesetzten Debatten noch mit Verboten lösen.
Vielleicht sollte man den gesellschaftlichen Diskurs sogar noch weiter fassen. Das Phänomen Kinderwunsch gilt als gesellschaftlich normierter Lebensentwurf, der am besten nicht hinterfragt werden sollte. Aber: Hängt das persönliche Lebensglück von einem Kind ab? Gibt es gelungenes Leben nicht auch für kinderlose Menschen? Darf man von Dritten erwarten, dass sie zur eigenen Glückserfüllung ihre reproduktiven Ressourcen zur Verfügung stellen?
Niemand hat behauptet, dass das Schicksal gerecht ist. Manche Frauen werden ungewollt schwanger. Manche Frauen sind zu alt, um Kinder zu bekommen, und adoptieren deshalb eines. Bei manchen Frauen weigert sich der Körper, ein Kind zu empfangen – sie lassen sich künstlich befruchten. Manche Frauen können Kinder empfangen, aber nicht austragen – sie mieten sich eine Leihmutter. Andere sind homosexuell und greifen zu künstlicher Befruchtung und/oder Leihmutter. Der moderne Mensch liebt das Schicksal nicht. Was sich nicht von selbst einstellt, wird gekauft. Die rastlose Suche nach einer Lösung für alle möglichen medizinischen Probleme, darin besteht die eigentliche Tragik. Mütter sollten nicht überhöht, Kinderlose nicht bemitleidet werden. Kann Zufriedenheit nicht auch darauf gründen, im Unerfüllten Erfüllung zu finden?
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