Leitartikel

Die Herrschaft des Bauchs

Aus ff 31 vom Donnerstag, den 03. August 2017

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Vernunft spielt in den aktuellen öffentlichen Diskussionen eine immer kleinere Rolle. Das kommt daher, weil die Politik Ideologie ist.

Die Themen dieses Sommers sind der Bär, das Impfen und der deutsche Kindergarten. Das Impfen ist die Domäne der Opposition. Ganz vorne steht Andreas Pöder – bei den Landtagswahlen 2013 waren die Ladiner sein Wahlvolk, jetzt sind es die Impfgegner.
Weiter hinten unter den Impfgegnern stehen die Grünen und die Freiheitlichen. Was sie miteinander verbindet, ist eine Bauchabneigung gegen das Impfen, gegen die keine Medizin hilft (Vernunft ist eine Erfindung der Wissenschaftslobby), und die Ansicht, es sei das Recht der Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen oder nicht.
Das Recht der Eltern ist die Schnittstelle zwischen dem Thema Impfen und dem Thema deutscher Kindergarten. Die Eltern nehmen sich das Recht heraus, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, den sie für geeignet halten – egal, ob es ein deutscher oder ein italienischer ist.
Das Recht der Eltern, für die Kinder die ­Schule zu wählen, passt nicht allen, es passt zum Beispiel den Freiheitlichen nicht, die beim Impfen das Elternrecht für heilig erklären. So entlarvt sich Politik als Ideologie oder Trittbrettfahrerei.
Der SVP hingegen passt die Entscheidungsfreiheit der Eltern weder beim Impfen noch bei der Wahl des Kindergartens. Aber ist das auch konsequent? Sonst bemüht die herrschende Partei zur Abwehr von mehrsprachigen Kindergärten oder Schulen gebetsmühlenartig das Argument: Es steht euch frei, die Kinder in die Schule mit der jeweils anderen Unterrichtssprache einzuschreiben. So entlarvt sich Politik schnell als Ideologie, jenseits der Vernunft und des Gesetzes, Bauchpolitik ein Jahr vor den Landtagswahlen.
Die Bauchpolitik wird von Bauchjournalismus flankiert. Am Dienstag, 25. Juli, lautete die Schlagzeile der Dolomiten auf der Titelseite: „Damit deutsche Kindergärten auch künftig deutsch bleiben.“ Ist das eine bestimmte „deutsche“ Denke oder bloß Gedankenlosigkeit, wenn auch noch darunter steht „Überfremdung: SVP sucht nach Lösung“? Und am nächsten Tag im Kommentarchen auf der Titelseite deutsche Kindergärten von italienischen und ausländischen Kindern geflutet werden?
Wer da keine Angst bekommt! Angst entsteht, wenn Politik und Journalismus Ideologie sind, wenn nur mehr der Bauch angesprochen wird.
Es ist ja überhaupt eine eklatante Verluderung der Begriffe festzustellen, wenn es um Migranten und Ausländer geht. Wenn Menschen kommen, ist es keine Zuwanderung mehr, sondern, etwa bei den Freiheitlichen, eine „Massenzuwanderung“. Durch Zahlen lässt sich das nicht belegen. Die Zahl der Ausländer, die in Südtirol gemeldet sind, hat 2016 nur geringfügig zugenommen – durch Geburten. Und hier wiederum liegt die Schnittstelle zum Impfthema. Wissenschaftliche Fakten werden nicht zur Kenntnis genommen oder manipuliert, gefälscht oder wie auch immer diskreditiert. Auch hier regiert Ideologie. Es herrscht die Bauchpolitik.

Was ist die Folge, wenn Politik Ideologie ist? Die Folge ist, dass zum Beispiel Eltern in den Kindergärten Fakten schaffen, die nicht mehr so einfach beherrschbar sind, dass es sich von alleine mischt. Man treibt die Kindergärtnerinnen so in ein unlösbares Dilemma: Reden sie Italienisch, verstoßen sie gegen den Erlass von oben, der als Kindergartensprache Deutsch vorschreibt. Tun sie es nicht, verstoßen sie gegen ihren ureigenen Auftrag, sich um die Kinder zu kümmern.
Die Politik, die SVP, hat zugeschaut. Und hat jetzt den Jammer. Und will jetzt verteilen, se­gregieren, Sprachen vorschreiben. Gesetze? Autonomiestatut? Das Geschwätz von gestern? Was kümmert’s einen? Die Eltern haben längst abgestimmt, die SVP (die sich ein Jahr vor den Wah­len an die Wähler der deutschen Rechten heranmacht) will das nicht zur Kenntnis nehmen.
Die Eltern wollen, das ist offensichtlich, als Angebot neben anderen, neben Kindergärten und Schulen mit deutscher beziehungsweise italienischer Unterrichtssprache, einen mehrsprachigen Kindergarten, eine mehrsprachige Schule. Nichts tun ist keine Option mehr. Abgrenzen auch nicht. Damit deutsche Kindergärten deutsch bleiben, braucht es eine Lösung mit Courage: mehrsprachige Kindergärten, in denen Kindergärtnerinnen nicht Sprachwächterinnen sind, sondern Kinder liebevoll erziehen.

"Angst entsteht, wenn Politik und Journalismus ­Ideologie sind, wenn in der Diskussion nur mehr der Bauch angesprochen wird."

Georg Mair

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