Leitartikel

Überall und nirgendwo

Aus ff 33 vom Donnerstag, den 17. August 2017

Leitartikel
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Heimat ist ein schwieriger Begriff. Heute über Heimat zu sprechen, heißt, auch über ­Grenzen zu reden. Zum Beispiel über jene zwischen Weltoffenheit und Abschottung.

Es gibt viele Arten, das Wort Heimat zu verstehen. Auf Italienisch heißt es ­patria, „Vaterland“, auf Spanisch tierra, „das Land“/„der Boden“, und auf Englisch homeland oder country, „Heimatland“. Die Begriffe unterscheiden sich, und dennoch tragen alle die Verbindung in sich zwischen Geografie und Biografie. Die Kultur eines Landes prägt das Wesen der Menschen, die dort aufwachsen. Für viele ist Heimat der Ort, an dem sie groß geworden sind.
Was Heimat im Einzelnen heißt, muss jeder für sich selbst wissen. Eine allgemeingültige Definition gibt es nicht – Heimat lässt sich mehr durch ein Gefühl beschreiben denn begrifflich erfassen. Die Brüder Grimm haben es dennoch versucht: „heimat, das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt hat“. Nun, das war einmal.
Heimat ist ein schwieriger Begriff. Viele suchen diese Heimat, und wenige finden sie, und nur in seltenen Fällen ahnt man, dass Heimat überall und nirgendwo ist. In der globalen Welt gehört das Verlassen der Heimat ­beziehungsweise ihr Verlust zum Alltag. Manche lehnen ihre Heimat ab, manche hängen an ihr. Die einen verlassen sie freiwillig, die anderen werden dazu gezwungen, durch Krieg, Hunger, Verfolgung, Verstoßung. Fremden zu begegnen und mit ihnen umzugehen, ist eine alltägliche Erfahrung geworden. Das Problem ist, dass noch immer viele glauben, dass Migration nur das Leben der Flüchtlinge verändere, nicht aber das der daran beteiligten Gesellschaften. Und das obwohl Euro­pa bis vor wenigen Jahrzehnten selbst der Kontinent der Fliehenden und Auswanderer war. Krieg, politische Unterdrückung, bittere Armut haben Millionen von Italienern, Deutschen, europäischen Juden in die Welt hinausgetrieben. Aber die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, solange sie nicht bedroht oder verloren ist.
Wie viel Fremde also verträgt die Heimat? Wer heute „Heimat“ sagt, zieht auch immer eine Grenze: zwischen Gefühl und Vernunft, der eigenen Innenwelt und der Gesellschaft, zwischen Weltoffenheit und Abschottung. Die entscheidende politische Frage der Zukunft wird sein: Wie können und wollen wir mit Fremdheit umgehen? Und was verstehen wir, in Bezug auf das Fremde, unter dem Eigenen?

In der jüngsten Vergangenheit ist Heimat ein großes gesellschaftliches Thema geworden. Einerseits gibt es eine neue Sehnsucht nach Heimat inmitten einer unübersichtlich gewordenen, globalisierten Gesellschaft. Andererseits ist Heimat so aufgeladen und ideologisch erhitzt wie noch nie, der Begriff wird ebenso rechts wie links besetzt.
Es wird viel gesprochen von Heimatstolz und von Patriotismus – eine verhängnisvolle Kombination zweier Ideen, die nicht zwingend das Gleiche beinhalten. Es gibt alle möglichen Versuche seitens, ja, eigentlich aller Parteien, einen neuen Patriotismus auszurufen. Und es gibt nach wie vor viele, die glauben, die Heimat durch Abschottung vor Veränderung schützen zu müssen.
Es gibt wohl kaum ein Wort, das so zwischen Intimität und Weltpolitik zerrissen wird. Heimat ist zugleich eine hochemotionale und hochpolitische Angelegenheit. Sie vereint Liebe und Pathos, Schmerz und Trauer. Man kann, ob man will oder nicht, ihr gegenüber nicht gleichgültig sein. Weil sie Teil unserer Identität ist.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass Flüchtlinge auch bei uns entsprechend untergebracht und notversorgt werden. Dass sie eine Chance haben, sich neu zu beheimaten.
Der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger forderte bereits in den Achtzigerjahren, dass sich Heimat und eine offene Gesellschaft nicht ausschließen dürften.
Angesichts der großen Veränderungen, die weltweit stattfinden, muss unser Heimatbegriff angepasst werden. Es gilt, nicht die Heimat abzugrenzen gegen andere, dadurch machen wir sie nur schwach und angreifbar. Künftig muss von Heimat im Plural gesprochen werden. Die eigene Heimat nämlich wird nicht schlechter dadurch, dass sie auch anderen zur Heimat wird. Meistens eher im Gegenteil. 

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