Leitartikel

Stolze Bürger

Aus ff 46 vom Donnerstag, den 15. November 2018

Zitat
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Die SVP geht in die nächste Runde der Koalitionsverhandlungen, im Internet läuft eine Petition gegen die Lega. Doch egal, welche politische Gesinnung man hat – die anderen kann man nicht verschwinden lassen.

Philipp Achammer hat Bauchweh, weil er weder in den Grünen und im PD, noch in der Lega einen Traumpartner sieht. Matteo Salvinis Herz klopft freudig, wenn er mit falschen Behauptungen die Chancen vergrößert, Menschen aus dem Land abzuschieben. Und ­Brigitte Foppa stößt es sauer auf, weil ihre Partei gemeinsam mit dem PD um den Eintritt in die Landesregierung verhandeln muss.
Bei all dem Geschimpfe und den Polarisierungen, die sich Bürger tagein, tagaus anhören müssen, fragt man sich: Was für ein Denken leitet diese Leute? Wollen sie sich damit nur ins Rampenlicht drängen oder ehrliche Lösungen finden? Und falls ja: Warum hört dann niemand dem anderen zu?
Immer weiter – so kommt es einem vor – driftet die Gesellschaft in zwei Richtungen auseinander. Die einen haben Angst um ihre Landesgrenzen, die anderen wollen eine kosmopolitische Welt. Die einen schüren Hass, die anderen wollen Liebe. Es geht um rechts und links, um Patriotismus und Globalisierung, um Abgrenzen und Aufnehmen. Jeder hat seinen Blick auf die Welt. Und jeder glaubt, seiner sei der richtige.
Wahrscheinlich haben beide recht.
Der eine Typus, der Heimatbesessene, hat Angst um seine Identität. Er stellt sein Land und seine Kultur in den Mittelpunkt, die nationalen Interessen über die internationalen. In sozialen Medien befeuert er Begriffe wie Heimat, Nation, Familie, Religion, Kultur und ­Tradition. Manche gehören zu den Grundpfeilern des Nationalismus, in dem die Angst, jemand könne die Kultur kaputt machen, sehr groß ist. In einer chaotischen Welt sieht er Nationalismus als einzigen Weg, eine stabile Gesellschaft zu formen. Und merkt nicht, wie er sich auf eine Nation beschränkt, die andere ausschließt.
Der zweite Typus ist der Weltbürger. Er denkt kosmopolitisch, hat oft einen multiethnischen Hintergrund, und betrachtet nicht nur einen Ort als Heimat. Er wünscht sich eine Politik auf globaler Ebene, ein Europa, sieht Gruppenidentitäten als hinderlich für die Globalisierung und ist für offene Grenzen, weil er glaubt, nur so Krisen überwinden zu können. Doch auch in der Globalisierung werden Menschen trotz humanistischer Denkweise abgehängt, Werte gehen verloren, und viele Menschen sehnen sich nach mehr Gemeinschaft.

Zwei Arten von Menschen, zwei Arten zu denken. Als Bürger scheint man sich für eine Seite entscheiden zu müssen: Liebe ich mein Land oder sorge ich mich um die Welt?
Die World Values Survey (weltweite Werte-Erhebung) fragte in den Jahren 2010 bis 2014 rund 89.000 Menschen aus 60 Ländern, wie stolz sie auf ihr Land seien. 88,5 Prozent antworteten mit „sehr stolz“ oder „ziemlich stolz“. Der Stolz auf sein Land sei zudem ein Indiz für das persönliche Glück, der Menschen glücklicher sein lasse, als Einkommen oder Zufriedenheit im Job.
Eine andere Studie zeichnet ein weiteres Bild: Demnach stimmten 71 Prozent der Weltbevölkerung dem Satz zu: „Ich bin Bürger der Welt.“ Die meisten von uns sind also gleichzeitig stolz auf ihr Land und sehen sich als Bürger der Welt. Zudem zeigten diejenigen, die sich als Weltbürger fühlten, ein höheres Level an nationalem Stolz auf als jene, die den Satz nicht unterschrieben.
Welche Schlüsse können wir also daraus ziehen? Patriotismus und Nationalismus gehen nirgendwo hin. Sie sind Teil der Gesellschaft, Teil vieler Menschen. Und: Ein Weltbürger zu sein, heißt nicht, sein Land zu verraten, sondern soziale und empathische Eigenschaften zu haben, über nationale Grenzen hinaus.
Die meisten Nationalisten und Patrioten in der Welt sind Globalisten – und andersherum. Vieles von dem, was wir an unseren nationalen Traditionen lieben, würde es ohne Globalisierung gar nicht geben.
Anstatt also eine Petition gegen die Lega zu verbreiten, sollten wir gegen Polarisierungen kämpfen. Die Frage ist nicht: Entscheide ich mich für Nationalismus oder Globalismus? Sondern: Wo finden wir in unserer komplexen Welt Raum für kreative, nicht polarisierende Lösungen?

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