Leitartikel

Wir sind das Volk

Aus ff 04 vom Donnerstag, den 24. Januar 2019

Zitat
© FF-Media
 

Was Volksabstimmungen anrichten können, zeigt der Brexit. Das Referendum hat das Land tief gespalten. Trifft das Volk immer verantwortungsvolle Entscheidungen?

In Großbritannien hat das Volk für den Brexit, den Auszug aus der Europäischen Union, gestimmt. Im Juni 2016 stimmten 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler für das Gehen und 48 Prozent für das Bleiben.
Und jetzt?
Jetzt ist das Land tief gespalten. Das ist die augenscheinlichste Folge der Volksabstimmung. Dabei gilt die direkte Demokratie oft als Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit, gegen die Wut über die da oben, gegen das Unbehagen an der (repräsentativen) Demokratie – die Parlamente eben, in denen der Volkswille gefiltert und in Gesetze übersetzt wird.
Das Volk, heißt es dann, weiß eben besser, was es will. Das Volk entscheidet verantwortlich. Wer bezweifelt, dass es das (immer) tut, ist kein Demokrat, sagen die Befürworter der direkten Demokratie.
Aber stimmt das auch, dass das Volk in der Summe verantwortungsvoll entscheidet? In Großbritannien etwa wurden mit falschen Versprechungen hohe Erwartungen geweckt, der Wahlkampf für das Gehen war eine Desinformationskampagne. Jetzt werden die Menschen, die am überzeugtesten für den Brexit waren, am meisten daran Schaden nehmen. Fischer, kleine Kaufleute, Bauern, Autobauer.
In Großbritannien hat die Volksabstimmung zu einer Lähmung der Politik im Allgemeinen und des Parlaments im Besonderen geführt. Komplexe Fragen lassen sich eben nicht immer mit einer einfachen Antwort lösen. Mit einem Ja oder einem Nein. Beim Brexit hat sich die Politik mit einem Referendum einfach davongestohlen. Und sich damit selber in eine aussichtslose Lage getrieben.
Jetzt ist das Land nur mehr in Wut und Hass vereint. Die Briten wollten über sich selber bestimmen. Das ist ihr gutes Recht. Wer in der EU bleiben will, der bleibe, wer gehen will, der gehe. Die EU ist keine Zwangsgemeinschaft. Doch wer gehen will, muss dies mit Verantwortung tun.

Der Brexit ist Selbstbestimmung, ohne die Verantwortung dafür tragen zu wollen. Und ohne die Folgen zu berücksichtigen, die die Entscheidung für andere hat. Für die Republik Irland zum Beispiel, die sich plötzlich mit einer Grenze zu Nord­irland wiederfinden würde – die Volksabstimmung befeuert den alten Konflikt in Nord­irland zwischen Katholiken und Protestanten. Oder für Schottland, das an das Referendum gekettet ist, obwohl es die EU nicht verlassen will und stark von den wirtschaftlichen Folgen des Brexit betroffen wäre. Die Schotten müssten hinnehmen, dass es ihnen schlechter geht, obwohl sie nichts dafür können.
Der Brexit ist ein Fall, wo Selbstbestimmung in Egoismus umschlägt. Wie in Katalonien, wo die Lust auf Unabhängigkeit mit dem Unwillen, mit anderen den Reichtum zu teilen, eine verhängnisvolle Union eingeht.
Ähnliches würde für Südtirol gelten. Selbstbestimmung würde das Land spalten. Die ­Italiener würden sich unweigerlich fragen (müssen), ob Südtirol noch ihre Heimat ist. Sie wären die Minderheit, die, wie beim Brexit, zurückbleiben würde. Mit Wut im Bauch. Alte Konflikte würden neu aufbrechen, neue entstehen.
Es gilt, statt Referenden als Wundertüte zu verkaufen, die Demokratie zu stärken, die Parlamente, die einzelnen Abgeordneten, sie mit Fachwissen, Personal und Geld auszustatten, sie zur Transparenz zu verpflichten. Eben ihre Unabhängigkeit (von den Lobbys) zu stärken und ihnen eine unabhängige und selbstbestimmte Arbeit zu ermöglichen – im ständigen Dialog mit den Bürgern.

Leserkommentare

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.