Judith Kienzl: Die EU-Wahl ist geschlagen. Auch für die Grünen und ihre Kandidatin Judith Kienzl. Traurig muss sie nicht sein. ...
Leitartikel
Wenn die Hütte brennt
Aus ff 23 vom Donnerstag, den 06. Juni 2019
Für mehr Klimaschutz, für gerechtere Löhne, für ein wolfsfreies Land: So viel Protest auf den Straßen gab es in Südtirol selten. Und das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft.
Es ist nicht leicht, Fraktionsvorsitzender zu sein. Schon gar nicht, wenn man der SVP-Fraktion im Südtiroler Landtag vorsitzt. Ein Fraktionsvorsitzender muss Mehrheiten für die Regierung organisieren, er ist Wortführer, wenn es darum geht, die Position der Fraktion bei öffentlichen Debatten zu vertreten. Er muss alle möglichen Tricks drauf haben, um eine einheitliche Linie herzustellen. Kurzum: Er muss die gesamte Klaviatur des politischen Geschäfts beherrschen, eloquent und angriffslustig sein und zugleich integrierend wirken.
Das können nur wenige.
Gert Lanz, seit einigen Monaten SVP-Fraktionschef, muss in seine Rolle noch hineinwachsen. Er will, so scheint es, nicht illoyal erscheinen, andererseits möchte er aber Zeichen setzen, Signale, dass man sich an der SVP-Basis auf ihn verlassen kann. Vergangene Woche beispielsweise hat er sich auf seiner Facebook-Seite über die Protestkundgebungen im Land gewundert.
Was passiert da gerade in unserem Land?, fragt er und schreibt: „Kollektivverhandlungen werden geführt. Ergebnis: Protestkundgebung. Gesetze zum Wolf werden gemacht. Ergebnis: Protestkundgebung. Was kommt als Nächstes? Brennen die Hütten?“ – „Südtirol“, so Lanz, „kenne ich anders.“
Nun, lieber Herr Lanz, ein kleiner Einwurf sei hier gleichwohl formuliert: Jene, die herrschen, haben die Macht. Aber jene, die beherrscht werden, das Volk, hat unter anderem die Straße. Das Recht zu demonstrieren ist ein hohes Gut. Die Straße ist, wenn man so will, seit jeher ein Trainingsgelände für die Demokratie. Freilich, auf der Straße werden keine Lösungen entwickelt oder Gesetze formuliert. Aber: Solche öffentlichen Proteste sind immer auch gesellschaftliche Aktivitäten, hier können neue Themen wachsen und neue Vernetzungen entstehen.
Schüler ziehen durch die Landeshauptstadt und protestieren gegen die Klimapolitik.
Öffentlich Bedienstete ziehen vor den Landtag und demonstrieren für mehr Lohn.
Bauern setzen sich auf ihre Traktoren und demonstrieren für ein wolfsfreies Südtirol.
Die Protestmärsche in diesen Tagen mögen landesuntypisch sein. Aber sie sind allemal besser als Bürger, die den Hintern nicht hochkriegen und die Welt so hinnehmen, als wäre sie gottgegeben – oder auf Südtirolerisch gesagt: SVP-gegeben.
Es gäbe viele weitere Themen, für die es sich ebenso lohnen würde, auf die Straße zu gehen. Leider trauen sich bestimmte Organisationen und Interessenverbände nicht.
Beispiele gefällig? Es lohnt sich immer noch, gegen schlechte Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen. Und auch außerhalb der Arbeitswelt gibt es genügend soziale Missstände, etwa im Bereich Wohnen und Mieten. Oder: Vergangene Woche gab es in Bozen eine Pressekonferenz zum Thema „Die Vereinbarkeitslüge“. Seit Jahren warten Eltern auf zukunftsweisende Arbeitskonzepte und familiengerechte Unterstützungen.
Die Probleme sind hinlänglich bekannt: zu lange Sommerferien, schwierige Betreuungssituation an Nachmittagen, schleichender Rückbau der Öffnungszeiten in den Bildungseinrichtungen … Seit Jahren wird geredet, be- und versprochen. Zielführende Lösungen fehlen noch immer.
Eines ist klar: Vereinbarkeit klingt leicht, die Realität aber fühlt sich meist anders an. Vereinbarkeit gibt es nicht ohne Zugeständnisse, doch die machen zurzeit vor allem die Arbeitnehmer und Familien. Es wäre schön, wenn die Politik endlich auch die Familie als Streitthema entdecken würde. Bislang gibt keine Partei so wirklich den Takt dafür an. Da ist es erstaunlich, dass es keinen größeren Aufschrei gibt, ja, dass Frauen und Familien nicht schon längst einmal mit Transparenten vor den Landtag gezogen sind.
Wer protestiert, der kämpft um Aufmerksamkeit. Um Aufmerksamkeit für Anliegen, die von der Politik nicht bearbeitet werden. Die Kritik von Protestgruppen, so sagte es seinerzeit der Soziologe Niklas Luhmann, sei eine Art „Immunsystem“ der Gesellschaft: Es reagiert, wenn aufkommende Probleme ignoriert werden.
Mann kann die Proteste dieser Tage belächeln, man kann sie ignorieren. Man kann ihnen aber auch, unabhängig davon, ob man ihnen inhaltlich zustimmt oder nicht, etwas Optimistisches abverlangen: Die Menschen wollen mitsprechen und sie können mitsprechen. Ohne dieses kritische Sich-Einsetzen würden sich Politik und Wirtschaft nämlich nur noch weiter verselbstständigen, als sie das ohnehin schon tun.
Die Protestmärsche in diesen Tagen mögen landesuntypisch sein. Aber sie sind allemal besser als Bürger, die den Hintern nicht hochkriegen und die Welt so hinnehmen, als wäre sie gottgegeben.
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