Leitartikel

Salvini ist zornig. Na und?

Aus ff 28 vom Donnerstag, den 11. Juli 2019

Leitartikel
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Die Kapitänin Carola Rackete hat sich den Befehlen des italienischen Innenministers ­widersetzt. Illegal. Ja vielleicht. Aber ein notwendiger Akt des zivilen Ungehorsams, um Menschenleben zu retten.

Es sind die jungen Frauen, die die Gesellschaft bewegen. Frauen wie Greta Thunberg oder Carola Rackete. 16 Jahre alt die eine, 31 die andere.
Die Schwedin Thunberg kämpft gegen die Klimakatastrophe, die Deutsche Rackete gegen die Katastrophe, die sich täglich im Mittelmeer abspielt, wenn Menschen auf der Flucht sterben.
Thunberg ist Schülerin, sie hat in den letzten Monaten bei den freitäglichen Demos (Friday for Future) für das Klima Abertausende von jungen Menschen auf die Straße gebracht, Rackete, Kapitänin des privaten Rettungsschiffes „Sea Watch“, lief nach wochenlangem Warten mit 40 Migranten an Bord trotz Verbotes in den Hafen von Lampedusa ein. Im Mittelmeer gibt es nur mehr ein paar Schiffchen, die Menschen retten. Die EU hat sich zurückgezogen und schaut von oben zu, mit Flugzeugen und Drohnen.
Thunberg und Rackete. Vorbilder! Vorbilder?
Die beiden Frauen wühlen die Gesellschaft auf, provozieren euphorische Zustimmung. Und Hass. Obwohl sie nur tun, was in einer Demokratie selbstverständlich sein müsste: die Stimme erheben, sich gegen Missstände wehren, sich für Menschenrechte einsetzen, sie nicht nur zu propagieren wie die Kommentatoren in ihren gemütlichen Redaktionsstuben. Sie leisten friedlich Widerstand, auch mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams. Sie hinterher abzukanzeln, ist leicht. Und zynisch.
Es spricht nicht für unsere Gesellschaft, wenn Selbstverständliches so viel Zustimmung und so viel Hass erzeugt, aber es sagt viel über die Gesellschaft aus. Die Verteidiger der Freiheit und der Grundrechte müssen wachsam sein. Wie viel Toleranz gibt es für Intoleranz?
Manchmal ist ziviler Ungehorsam notwendig, wenn sich etwas ändern soll – grundlegende Rechte sind damit verteidigt oder erstritten worden. Journalisten ziehen sich im Streit gerne hinter den Satz zurück: Mach dich nicht gemein, auch mit einer guten Sache nicht. Natürlich, das ist das Mantra des guten Journalismus. Aber darf ein Journalist nicht für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten, für die Verfassung, für eine Gesellschaft, die von Solidarität und nicht von Ausgrenzung geprägt ist?

Ziviler Ungehorsam macht Politiker mit stark autoritären Haltungen wie Matteo Salvini wütend. Er nutzt ihn für seine Zwecke. Aber das tut er so oder so. Heißt es deshalb stillstehen? Was ist wichtiger, Menschenleben zu retten oder den Zorn von Salvini zu vermeiden? Hatte Carola Rackete eine Wahl, als sie vor der Entscheidung stand, Menschen sterben zu lassen oder die Befehle von Innenminister Salvini zu missachten und nicht in einen italienischen Hafen einzulaufen?
Hatte sie nicht, wenn man davon ausgeht, dass Menschenleben mehr zählen als Befehle eines Innenministers, der jeden Tag aufs Neue gegen Menschen auf der Flucht hetzt und ihre Zahl verbal vergrößert, ja gar von einem „großen Bevölkerungsaustausch“ faselt. Matteo Salvini müsste es eigentlich besser wissen: 2019 kamen laut Statistik des Innenministeriums von Januar bis Juni 3.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer, 2018 waren es noch 17.000, 2017 85.000 gewesen.
Gibt es also überhaupt ein Problem?
Salvinis rabiates Auftreten in der Flüchtlingsfrage dient dazu, die Probleme der italienischen Regierung zu überdecken. Den wirtschaftlichen Stillstand, die Ahnungslosigkeit mancher Minister, die mageren Reformen, wo doch Lega und Fünf-Sterne den totalen Aufschwung versprochen hatten. Das andere Problem ist, dass Europa Italien zu lange in der Flüchtlingsfrage allein gelassen hat. Da hilft es wenig, wenn jetzt der deutsche Innenminister Horst Seehofer Briefe an Italien schreibt, mit denen er um Einlass in italienische Häfen für die privaten Retter bittet.
Es braucht Menschen wie Carola Rackete. Leider. Um deutlich zu machen, dass Menschenrechte nicht verhandelbar sind. Denn wenn Menschenrechte einmal verhandelbar sind, kann es schnell auch uns treffen, die wir uns noch in Sicherheit wiegen.

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