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Leitartikel
Wir werden nicht mehr dieselben sein
Aus ff 12 vom Donnerstag, den 19. März 2020
Das Coronavirus zwingt uns, unser Leben zu verändern. Das bietet auch Chancen.
Der Kampf gegen das Virus geht weiter. Wir wissen nicht, wie lange er dauern wird, was er uns allen noch abverlangen wird, wen wir noch verlieren werden. Das ist beunruhigend, das ist unheimlich. Das zerreißt unsere Nerven.
Selten konnte man so tief in die Seelen von Verwandten, Arbeitskollegen und Freunden blicken wie zurzeit. Es zeigt sich in diesen Tagen und Wochen, wie unterschiedlich die Menschen mit Unsicherheit und Angst umgehen. Nicht alles, was wir da sehen und erleben, ist erhebend. Trotzdem: Wir müssen gemeinsam durch die nächsten Wochen kommen. Die Frage ist: Wie?
Wir sollten versuchen, diesem Ausnahmezustand auch das Positive abzugewinnen. Ohne freilich den Ernst der Lage zu verkennen.
Wir sehen in diesen Tagen, wie viele Menschen Unglaubliches leisten, wie sie ihre Kraft und ihre Gesundheit für andere einsetzen – Ärzte, Pflegepersonal, Sanitäter, freiwillige Helfer, Verkäufer, um nur einige stellvertretend zu nennen.
Wir sehen auch, dass wir nun etwas haben, das uns verloren gegangen schien: Ruhe und Zeit. Unsere Leistungsgesellschaft hat uns das nicht mehr vergönnt. Jetzt haben viele von uns auf einmal sehr viel Zeit. Zeit zum Lesen, zum Denken, zum Musik hören, zum Aufräumen, zum Miteinander-Reden in der Familie. Man sollte diese Zeit nutzen.
Viele Betriebe merken jetzt: Homeoffice ist möglich, ohne dass gleich alles zusammenbricht. Vielleicht entstehen hier insgesamt neue Organisationsformen, die der Wirtschaft längerfristig helfen, effizienter zu werden.
Neue Satellitendaten zeigen, dass die Luftverschmutzung über Italien ebenso wie über China mit Beginn der Sperrmaßnahmen gesunken ist. Dem Planeten wird eine kleine Verschnaufpause gewährt, zumindest für eine kurze Dauer. Und das Wasser in den Kanälen von Venedig ist zurzeit so sauber wie nie. Man sieht bis auf den Grund und sogar, wie die Fische ihre Kreise ziehen.
Wir lernen wieder, wie wichtig ein Minimum an Hygiene ist, beispielsweise regelmäßiges und gründliches Händewaschen. Etwas, das viele vor Corona mit Sicherheit nicht immer so beherzigt haben, wie wir das jetzt tun.
Einige Menschen im Land entdecken die Nachbarschaftshilfe neu, viele verhalten sich solidarisch, rücksichtsvoll. In der Krise entdecken wir wieder das Fundament unserer Gesellschaft: die Solidarität. Wenn es gut geht, werden wir uns auch daran erinnern, wenn sie vorbei ist. Dann werden wir nicht mehr eine Gesellschaft sein, in der jeder sich nur mehr um das eigene Wohlergehen kümmert.
Das Eingeschlossensein kann die Kreativität fördern. In Giovanni Boccaccios Mittelalterwerk „Decamerone“ beispielsweise flieht eine zehnköpfige Gesellschaft vor der Pest in ein Landhaus. Dort erzählt man sich Geschichten über das Leben – zehn Novellen entstehen.
Corona wird nicht die letzte Krise dieser Art sein. Corona gibt uns die Chance zu prüfen, inwieweit wir auf derartige Bedrohungen vorbereitet sind. Wie steht es um die Informationspolitik? Die Notfallpläne?
Der Kampf gegen das Virus kann das Beste aus uns herausholen. Er zeigt, wozu wir fähig sind. Es zeigt auch, was wir in Zukunft besser machen können. Es liegt an uns, ob wir die Chancen nutzen, oder nach dem erfolgreichen Kampf gegen das Virus zu unserem überhitzten Alltag zurückkehren.
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