Südtirol beendet die Ausgangssperre – mit einem eigenen Gesetz: ff 19/2020
Leitartikel
Die Corona-Gesellschaft
Aus ff 20 vom Donnerstag, den 14. Mai 2020
Die Corona-Krise ist eine gesellschaftliche Krise. Sie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen. Es braucht jetzt gute Konzepte und Fingerspitzengefühl.
Die Menschen sind Corona-müde. Seit zwei Monaten kämpfen die Südtirolerinnen und Südtiroler mit Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung. Sie haben kaum soziale Kontakte. Sie können ihren Hobbys vielfach nicht nachgehen. Viele haben Existenzängste.
Besonders viel wird sich daran auch in naher Zukunft nicht ändern. Selbst wenn die Politik jetzt die rasche Öffnung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens eingeleitet hat. Die Zukunft ist alles andere als gewiss.
Die Coronakrise ist ein Stresstest von unbekanntem Ausmaß: für das Gesundheitssystem, für die Wirtschaft, für die Demokratie. Vor allem aber ist diese Coronakrise eine gesellschaftliche Krise. Sie hat das Potenzial, unsere Gesellschaft noch tiefer zu spalten. Ihre Folgen werden noch lange nachwirken.
Viele Menschen wollen das nicht wahrhaben. Viele sehen nur die Momentaufnahme und das Schlimme in der eigenen Nähe. Jeder ist sich selbst der Nächste. Dieser Satz hat selten so zugetroffen wie in dieser Zeit. Die körperliche Distanz aber zwischen den Menschen, das sogenannte „Social Distancing“, hat tiefgreifende Folgen, die weit über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten hinausgehen.
Menschen brauchen die Nähe anderer Menschen. Nähe gibt Sicherheit. Normalerweise rücken Menschen gerade in schlimmen und gefährlichen Situationen auch körperlich näher zusammen.
Alte Menschen zum Beispiel. Sie gehören zur Risikogruppe, deshalb werden sie besonders geschützt, sie sollen möglichst wenig Kontakt zu anderen haben. Das ist wichtig und ein Akt der Fürsorge, andererseits kann diese Isolation auf Dauer schaden und einsam machen. Viele müssen auf eine letzte Umarmung und einen würdigen Abschied am Sterbebett verzichten. Viele dürfen keinen Besuch von Kindern und Enkelkindern bekommen. Das ist bitter und herzlos.
Bei allen Rufen nach Lockerungen und Öffnungen sollten wir diese doch sehr große gesellschaftliche Gruppe nicht vergessen. Wir dürfen die Freiheitsrechte der älteren Menschen nicht gegen ihren Willen einschränken. Sie sind jene Gruppe in unserem Gemeinwesen mit der größten Lebenserfahrung. Die meisten handeln vernünftig. Trauen wir ihnen doch zu, dass sie wissen, welches Verhalten risikoreich ist. Das muss ihnen niemand dauernd sagen.
Man wird das Gefühl nicht los, dass vor allem zwei Gruppen erst dann gerettet werden, wenn die Großen sicher sind: die älteren Menschen und die Kinder. Gesellschaftliche Errungenschaften – wie eben eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie – scheinen nur so lange erhaltenswert, wie es wirtschaftlich bergauf geht.
Während für die Erwachsenen nach und nach Lockerungen greifen, gelten für Kinder weiterhin Verbote. Kein Kindergarten, keine Schule, kaum Freunde. Um langfristigen Schaden von Kindern und Jugendlichen abzuwenden, sollten auch Betreuungsangebote wieder ausgeweitet werden. Mit dem neuen Landesgesetz, das vergangene Woche verabschiedet wurde, wird jetzt mit einer „Notbetreuung“ zwar eine erste Hilfe aktiviert (siehe auch eigenen Artikel ab Seite 14). Doch ist diese nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Ganze geschieht seitens der Politik gerade völlig kopflos, frei nach dem Motto: Hauptsache, irgendetwas anbieten, egal wie. Und das auf Kosten der Pädagogen, Lehrpersonen, Erzieher, vor allem aber auf Kosten der Kinder.
In den kommenden Monaten wird sich wahrscheinlich nichts Grundlegendes mehr an der Pandemiesituation ändern. Deshalb wäre es gut, statt auf Geschwindigkeit lieber auf gute Vorbereitung und gute Konzepte zu setzen. Und die sind nicht von heute auf morgen zu realisieren.
Zu Beginn der Krise standen Expertisen von Medizinern und Virologen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Angesichts der Tragweite der gesellschaftlichen Veränderungen müsste jetzt jedoch klar sein, dass auch die sozial- und kulturwissenschaftlichen, ja, auch philosophischen Sichtweisen für die Bewertung und Bewältigung der Pandemie unverzichtbar sind. Je früher das geschieht, desto besser ist es.
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