Leitartikel

Es ist jetzt leicht, Opfer zu sein

Aus ff 24 vom Donnerstag, den 11. Juni 2020

Zitat
Zitat © ff Media
 

Die öffentliche Hand wird jetzt nicht alles alleine bewältigen können. Wer hat, muss geben, wer helfen kann, muss helfen. Und wer fordert, muss auch sich selber fordern.

Am Ende des Lockdown, nach gut drei Monaten, hat sich eine Gesellschaft gezeigt, die erstens wenig widerstandsfähig ist und in der zweitens viele nur an sich selber denken.

Phase 1: #wir halten zusammen.

Phase 2: #wir schauen zuerst auf uns.

Was folgt in Phase 3? #Verteilungskampf.

Leicht möglich, denn die Politik hat den Menschen noch nicht gesagt, dass das Geld nicht reicht, wenn man allen geben will, was sie fordern. Wenn Unterstützung also gerecht verteilt sein soll, bekommen alle weniger, als sie erwartet oder gefordert haben. Die Politik, die sich jetzt in Versprechungen übertrifft, wird das moderieren und den Menschen erklären müssen. Sie wird es auch deshalb moderieren müssen, um nicht kommenden Generationen eine große Schuldenlast aufzubürden und wenn sie nicht sich selber lahmlegen will.

Viele Unternehmen haben in der Krise den Eindruck erweckt, sie würden zusammenbrechen, wenn ihnen nicht sofort unter die Arme gegriffen würde. Sind Unternehmen wirklich so schlecht aufgestellt, oder ist die Gelegenheit günstig für Steuererleichterungen oder Lockerungen von Auflagen? Wie resilient (gerüstet für Krisen) sind Unternehmer? Müssten sie nicht alles tun, um ihren Betrieb zu retten, auch wenn sie dafür ihr Vermögen angreifen müssten – das machen Arbeitnehmer in der Lohnausgleichskasse ja auch? Wer bezahlt die Kosten der Krise, wenn jetzt plötzlich alle Steuern gesenkt werden, wer bezahlt die Investitionen für Sanität, Bildung, Digitalisierung, Verkehr und Klima? Warum reden wir nicht über eine Finanztransaktionssteuer, wo doch die Aktienkurse in die Höhe schießen? Und Unternehmer, Hoteliers, Handwerker vergessen gern, dass die Lohnausgleichskasse auch eine Unterstützung ist, um die Kosten der Krise abzufedern. Dafür braucht es jetzt als Begründung nur „Covid-19“ – mit dem entsprechenden Potenzial für Missbrauch.

Ein Ausweg aus der Krise wird nicht zu haben sein, ohne dass Reiche etwas abgeben, mehr als bisher. Jetzt muss, wer mehr hat, mehr geben: Sonst droht die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderzugehen.

Gut durch die Krise kommen werden Betriebe, die maßvoll investiert haben. Wer Maß gehalten hat, kassiert jetzt die Tantieme. Und die Tantieme ist das Weiterbestehen, die Chance, sich schneller zu erholen. Was sich jetzt rächt, ist die Gier nach immer mehr: größer, schöner, protziger.

Gut durch die Krise gekommen sind auch die Angestellten im öffentlichen Dienst: immer im Dienst, im Homeoffice. Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen haben bestimmt viel gearbeitet, aber sie durften arbeiten, niemand von ihnen hat Einbußen hinnehmen müssen. Es wäre also eine schöne Geste, würden sie sagen, dafür melden wir uns gerne im Sommer für die Kinderbetreuung, das ist unser Dank dafür, dass wir einen sicheren Job haben. Das wäre Solidarität, ohne lange auf Prinzipien zu beharren.

Denn es wird eine Zeit sein, in der die öffentliche Hand nicht alles alleine wird bewältigen können. Eltern werden also wieder Eltern sein müssen und nicht „Erziehungsorganisatoren“ (wie eine Freundin meint). Nachbarn werden einander bei der Kinderbetreuung helfen müssen, ohne Geld zu verlangen. Wir sind schuldlos Opfer der Krise geworden, aber machen wir uns jetzt nicht selber zu Opfern (ein bisschen ist es ja bequem, sich in der Opferrolle einzurichten). Wir müssen anderen helfen und uns selber. Wer fordert, muss sich auch selber fordern.

Denn wenn alle Opfer sind, übersieht man leicht, wer durch die Krise am meisten gefährdet ist. Die gut 200.000 Menschen, die durch ihre Arbeit das Land aufrechterhalten, die am meisten Steuern zahlen, die Arbeitnehmer – von denen jetzt schon 20.000 arbeitslos sind.

Jetzt kann das Land beweisen, wie sozial es ist. Jetzt kann jeder Einzelne beweisen, wie sozial er ist.

Leserkommentare

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.