Erwin Mayr ist in seinem Leben schon vieles gewesen: Kameramann, Elektrotechniker, Solarunternehmer und Experte für Wasserstoff. Jetzt leistet er Entwicklungshilfe in Afrika.
Leitartikel
Was zu lernen wäre
Aus ff 29 vom Donnerstag, den 16. Juli 2020
Nach Corona darf es in den Schulen kein „Weiter so“ geben. Nötig ist ein ehrlicher Blick auf die Mängel in der Bildung – und der Mut zu innovativen Wegen.
Im Idealfall führen Krisen dazu, innezuhalten und Dinge, wie wir sie kennen, neu zu überdenken. Vor allem für den Bereich Schule und Bildung wäre jetzt die Zeit ideal, das System von alten Verkrustungen zu befreien. Die Coronakrise nämlich wird nicht die letzte Krise sein. Damit wir aber auf die nächste bestens vorbereitet sind, müssen wir jetzt anfangen, Bildung neu zu denken.
Mit „neu denken“ ist hier keine lange Scheindiskussion gemeint, die am Ende doch wieder keine Ergebnisse und nur irgendwelche Trostpflaster produziert. Vermeintlich Bewährtes sollte jetzt von Grund auf infrage gestellt und ehrlich reflektiert werden. Das jedenfalls wäre das Mindeste.
Unser Schulsystem ist ein Auslaufmodell. Ein schwerfälliger Tanker, ein marodes Gebäude. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert, die pädagogischen Konzepte dafür stammen aus dem 20. Jahrhundert, und die gesamte Technik ist aus dem 21. Jahrhundert. Es geht jetzt darum, daraus ein zukunftsfähiges System zu entwickeln und zu gestalten.
Dafür brauchen wir mehr als eine Diskussion um die mangelnde Hardware für die Schüler oder über die Digitalkompetenz von Lehrern.
Dafür müssen wir Komfortzonen verlassen und unbequeme Fragen stellen.
Dafür sind konstruktive Ehrlichkeit aller Beteiligten, vor allem gute Kommunikation gefragt.
Corona hat alles umgeworfen, aber auch vieles aufgebrochen. Plötzlich ist die Digitalisierung der Schule kein Thema mehr. Auf einmal weiß man wieder um die Bedeutung der Schule als sozialen Lernort. Jetzt, so die Hoffnung, können die Schulen nach den Sommerferien wieder in den Regelbetrieb übergehen. Mit den Lockerungen aber steigt auch die Gefahr, dass erneut Infektionen auftreten und Schulen zeitweise wieder geschlossen werden müssen.
Angesichts dieser Unsicherheiten und Ungewissheiten liegt es nahe, mehr als nur Konzepte für das Lernen zu Hause zu entwickeln. Die Krise könnte der Auftakt für eine breite Bildungsdebatte sein, ja, sie könnte die Gelegenheit sein zu einer Revolutionierung des bestehenden Schulsystems. Dazu braucht es das Mitwirken aller – Lehrer, Schüler, Eltern, vor allem aber auch jener Stellen, wo die Regeln gemacht werden: in Politik und Verwaltung. Die Politik muss wirklich zuhören, anpacken und Wandlungsprozesse ankurbeln. Sie muss agieren und nicht reagieren.
Rom und die Frage der Kompetenzen zieht nicht mehr als Ausrede. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass vieles plötzlich möglich ist, von dem man stets dachte, es sei auf ewig unmöglich.
Wandel in der Schule heißt grundlegende Veränderung in Organisation und Leitung von Schule, Veränderung aber auch im Lehren und Lernen sowie in der Rolle der Lehrenden selbst. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Lehrerbildung hängt immer noch zu sehr an ihren alten Mustern – sie sollte den Fokus stärker auf Persönlichkeitsentwicklung und frühe Praxiskontakte richten.
Oder: Wenn Lernen immer mobiler wird, also zeit- und ortsunabhängig, sollten wir uns auch vom starren Stundenplan und fein säuberlich sortierten und geordneten Unterrichtsfächern verabschieden. Lehrpläne müssen entrümpelt und Prüfungsformate überdacht werden. Auch das alte Klassenzimmer mit seiner frontal auf Tafel und Lehrperson ausgerichtete Zentrierung wird der neuen Zeit nicht mehr gerecht. Erneuert werden muss also nicht nur die Pädagogik, sondern ebenso Architektur und Raumgestaltung.
Exzessiver Frontalunterricht und das reine Abfragen auswendig gelernter Inhalte ist nicht mehr zukunftstauglich. Bildung umfasst mehr als Können und Wissen, Bildung umfasst all das, was den Menschen zum Menschen macht. Projektbezogenes, vernetztes und interdisziplinäres Lernen und Arbeiten soll verstärkt ermöglicht werden. Und: Schule und außerschulische Lernorte könnten verstärkt zu einem Ganzen verbunden werden.
Kurzum: Was es braucht, ist ein großer Wurf. Wer die Schulfrage wirklich angehen will, der darf sich jetzt nicht im Klein-Klein verlieren.
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