Leitartikel

Elena muss warten

Aus ff 31 vom Donnerstag, den 30. Juli 2020

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An wen und warum an jemanden erinnert wird, sagt viel über eine Gesellschaft aus. Oft geht es um Macht und Deutungshoheit. In Meran auch um Dummheit.

Wenn die alten Römer jemanden hart bestrafen wollten, dann vergaßen sie ihn. In Ungnade gefallene Herrscher zum Beispiel. Als Kaiser Nero zum Staatsfeind erklärt wurde, verhängten die römischen Senatoren die Damnatio memoriae über ihn, sie verdammten sein Andenken. Was gibt es Schlimmeres, als in Vergessenheit zu geraten? Neros Standbilder wurden umgestürzt, der Name aus öffentlichen Denkmälern getilgt, seine Bildnisse zerstört. „Gedenkt seiner nicht!“, lautete das Urteil. Richtig tot bist du erst, wenn sich niemand mehr an dich erinnert.

Die Meraner Gemeinderäte wollten das Gegenteil, sie wollten an jemanden erinnern. An die Meranerin Elena De Salvo, die sechs Jahre alt war, als sie im KZ Auschwitz vergast wurde, weil sie Jüdin war. Um an sie zu erinnern, sollte die Cadornastraße nach ihr benannt werden. Luigi Cadornas Platz in der Erinnerungskultur ist gesichert: Dem italienischen General, unter dessen Oberbefehl viele Soldaten im Ersten Weltkrieg starben, sind in jeder italienischen Stadt Straßen und Plätze gewidmet, Elena kennt niemand.

An wen, warum und wie an jemanden erinnert wird, sagt viel über eine Gesellschaft aus. Emotional wie politisch. Bei der Benennung von Plätzen, Straßen oder Gebäuden geht es um Symbolik und Deutungshoheit. Um Macht.

Besonders in Südtirol. Ein Land, in dem Wanderschilder zum Politikum werden und ein Friedensplatz wieder zum Siegesplatz werden muss. Eine Gesellschaft, in der Sprache, Geschichte und Gedächtnis immer hochsensibel und bei jeder Gelegenheit schrecklich politisiert werden.

2013 veröffentlichte Martha Verdorfer ein Buch über Südtiroler Schulnamen. Ihre These: Schulnamen erlauben einen Rückschluss auf das gesellschaftlich-politische Verhältnis zwischen den Sprachgruppen und auf das Südtiroler Geschichtsbild. Die Historikerin war sich sicher, wie Schulgebäude benannt werden, zeigt, wie es um die Demokratiequalität in diesem Land bestellt ist.

Beispiel Vintl. In den Achtzigerjahren wurde darüber gestritten, ob die deutschsprachige Mittelschule nach dem bekannten SS-Eid-Verweigerer Josef Mayr-Nusser benannt werden sollte.

Beispiel Brixen. In den Neunzigerjahren wurde darüber gestritten, ob die italienischsprachige Wirtschaftsfachoberschule nach den ermordeten Antimafiarichtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino benannt werden sollte.

Auch Straßennamen sind Abbild gesellschaftlicher Prozesse: Wurden im NS-Staat wie in den von ihm besetzten Gebieten viele Straßen und Plätze nach Adolf Hitler benannt, wurden sie nach 1945 umbenannt. Jeder Regimewechsel hinterlässt deutliche Spuren, auch in Meran.

Habsburgerreich, Faschismus, Deutsches Reich, Republik Italien – Pietro Umberto Fogale und Johannes Ortner haben darüber ein Buch geschrieben, das im August erscheinen soll. Sie werden einen neuen Absatz einfügen müssen – die für eine Umbenennung fehlende Zweidrittelmehrheit im Meraner Gemeinderat vergangene Woche hat viele Reaktionen hervorgerufen. Wer zwischen einem General des Ersten Weltkriegs und einem vergasten jüdischen Mädchen entscheiden muss, sollte wissen, auf welcher Seite er steht.

Dass die Meraner Cadornastraße weiterhin nach Cadorna benannt bleibt, hat aber auch einen ganz besonderen Grund. Es geht nicht um Emotionalität oder Ethnizität. Es geht nicht um ideologische Divergenzen oder erinnerungskulturelle Deutungshoheit. Es ging darum, kurz vor den Gemeindewahlen Antragssteller David Augscheller und Bürgermeister Paul Rösch politisch reinzugrätschen. So kleinkariert und kleingeistig muss man erst mal sein.

Die Mittelschule Vintl wie auch das Istituto tecnico economico in Brixen wurden schließlich doch nach Mayr-Nusser und Borsellino und Falcone umbenannt.

Elena muss noch etwas warten. Vergessen wird man sie nicht.

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