Leitartikel

Die Corona-Selbstbestimmung

Aus ff 42 vom Donnerstag, den 15. Oktober 2020

Zitat
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Im Umgang mit dem Virus geht Südtirol einen Sonderweg. Schadet er der Gesundheit? Auf jeden Fall scheinen manche Sparten mehr Freiheiten zu haben als andere.

In der Covid-19-Krise ist Südtirol, wie es die Südtiroler Freiheit gerne hätte: selbstbestimmt. Die Landesregierung verfolgt im Umgang mit Corona hartnäckig einen eigenen Weg. Aber wann schlägt Hartnäckigkeit in Sturheit um, die die Gesundheit gefährdet? Die Zahlen sind in der vergangenen Woche stark gestiegen. Das Mittel dagegen schien in den vergangenen Tagen zu sein: Weniger Tests, also auch weniger Fälle – die Testfrequenz ging an einigen Tagen auffällig zurück.
Im Moment steht es auf der Kippe, ob die Hartnäckigkeit der Landesregierung den Menschen im Land hilft oder schadet. Das Beispiel Sexten, wo über 100 Menschen positiv auf das Virus getestet wurden, zeigt, wie trügerisch die Normalität ist, wie schnell sie in einen Notstand umschlagen kann (siehe eigenen Artikel ab Seite 16).
Die Signale der Politik sind widersprüchlich. Sie mahnt, doch klare Maßnahmen ergreift sie nicht, auch wenn die Nervosität von Kompatscher & Co offensichtlich ist. Die Landesregierung zieht rhetorische Schleifen – ein Meister darin ist Gesundheitslandesrat Thomas Widmann, der gute Verbindungen zur Wirtschaft pflegt. Diese Wortschleifen können auch so interpretiert werden, dass man die Vorsichtsmaßnahmen nicht so genau nehmen muss. Wir müssen nicht, wir sollen nur – die Verantwortung wird auf uns Bürgerinnen und Bürger abgeschoben. Zwischen Eigenverantwortung und Verantwortungslosigkeit ist dann oft nur ein schmaler Grat.
Ja, ein bisschen kontrolliert wird auch. Aber oft hat man den Eindruck: Alles ist wieder möglich. Feten wie in Sexten, private Feiern, Fahrgäste in Zügen und Bussen, denen der Atemschutz unter dem Kinn hängt, ohne dass ein Kontrolleur sie auf die Maskenpflicht hinweisen würde, Menschen, die sich in den Innenstädten drängen und von denen nicht jeder den Willen zeigt, sich und die anderen durch Tragen einer Maske vor Ansteckung beziehungsweise Übertragung zu schützen.
Wenn wir so weitermachen, werden die Zahlen weiter steigen, werden Fußballer nicht mehr spielen, die Schüler zu Fernunterricht verdonnert werden, in den Gasthäusern nur mehr ein paar Leute sitzen dürfen. Und Südtirol wird vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft werden, das deutsche Außenministerium in der Folge eine Reisewarnung erlassen. Das heißt, unsere Freunde aus Deutschland dürfen zwar reisen, müssen sich aber bei der Rückkehr einem Corona-Test unterziehen. Arnold Schuler, Landesrat für Tourismus, versucht das zu vermeiden, indem er Südtirol in Bezirke unterteilt. Sexten rot, der Vinschgau grün. Aber was ist, wenn dann jemand den Bezirk wechselt?
Maßnahmen fruchten nur, wenn sie klar sind. Und wenn deren Einhaltung kontrolliert wird.

In der Politik der Landesregierung tun sich Widersprüche auf. Sie würden sich noch verschärfen, wenn die Landesregierung die Christkindl-Märkte genehmigte, auf denen sich in den vergangenen Jahren schon Zehntausende von Menschen drängten. Was damals schon zu viel war, wäre jetzt erst recht zu viel. Genauso wie Warteschlangen vor Aufstiegsanlagen, Gondeln, in denen kein Blatt Papier mehr zwischen die Skifahrer passt.
Im Assessorat von Wirtschaftslandesrat ­Philipp Achammer ist in den vergangenen Wochen intensiv darüber diskutiert worden, ob es in ­Coronazeiten Christkindl-Märkte geben kann? – die Wirtschaft bedrängt den Landesrat massiv. Christkindl-Märkte sind gewinnträchtig. Ja, aber sie wären auch ein großes Sicherheitsrisiko.
Wie will man die Leute zwischen den Ständen etwa am Waltherplatz trennen, will man den Ausschank von Alkohol verbieten – und das nicht nur auf den Märkten selber? Sie zu genehmigen – auch unter (kostspieligen) Auflagen – wäre ein Beleg dafür, dass die einen gleicher sind als die anderen – Schule und Kultur etwa müssen Kopfstände machen, dass die Gesundheit im Namen des Geldes zurückstecken muss.
Warum die einen dürfen und die anderen nicht, das muss uns die Landesregierung erst einmal erklären.

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