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Leitartikel
Gratwanderung
Aus ff 43 vom Donnerstag, den 22. Oktober 2020
Es wird kalt, die Ansteckungen mit dem Coronavirus nehmen rapide zu. Es braucht jetzt Vertrauen. Dafür aber muss die Politik klare Regeln vorgeben.
Machen wir uns nichts vor. Das Virus ist mit voller Kraft zurück. Und wir werden einen hohen Preis dafür bezahlen. Wer anderes sagt, wer immer noch so tut, als habe Südtirol seinen ganz eigenen, einen sicheren Weg gefunden, der macht uns was vor. Wir sind nicht per se besser als die anderen.
Das Beharren auf eigenen Südtiroler Lösungen stiftet erhebliche Verwirrung. Niemand weiß mehr, welche Regeln jetzt Wie und Wo genau gelten. Das untergräbt das Vertrauen in das Krisenmanagement der Politik. Und Vertrauen ist zentral bei der Bekämpfung der Pandemie. Wir müssen glauben können, dass die Politiker wissen, was sie tun. Ja, es kann Fehler geben, doch wenn sie sich häufen, wenn die zweite Welle jetzt über unser Land rollt, dann werden sich viele zu Recht fragen, was da schiefgelaufen ist.
Diese Frage ist politisch heikel. Denn sie wird sich zuspitzen auf die Frage: In welchen Händen sind wir eigentlich?
„Halten wir zusammen“, schreibt der Landeshauptmann in seinem Appell an die Südtiroler Bevölkerung. „Schauen wir aufeinander und respektieren wir in gegenseitigem Respekt die Regeln.“ Wichtige Sätze, keine Frage. Sie reichen aber nicht aus. Dazu ist die Lage zu ernst. Es wäre Zeit für eine „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“, in der er Land und Leute schonungslos und ehrlich auf einen schweren Winter vorbereitet, einen Winter, in dem es unvermeidlich sein wird, große Opfer zu bringen.
Die Südtiroler ahnen ja ohnehin, dass dieser Winter so sein wird wie keiner vor ihm. Das Weihnachtsfest, wie wir es kennen, wird es wahrscheinlich nicht geben. Das ist ein tiefer Einschnitt in unsere kollektive Psyche.
Anstatt klarer Ansprache aber herrscht ein kommunikatives Durcheinander. Ein paar Beispiele: Auf private Feiern, so die „Empfehlung“, solle man wenn möglich bitte verzichten. Selbst an den Christkindlmärkten wollte man noch bis zum Schluss festhalten, in welcher Form auch immer. Oder: „Man sei viel besser gerüstet“ als noch im Frühjahr, so heißt es seit Wochen. Doch bereits jetzt müssen Krankenhausabteilungen geschlossen und Personal abgezogen werden für die Covid-19-Patienten.
Südtirol scheint nicht wahrhaben zu wollen, dass die zweite Welle das Land bereits erfasst hat und dass die Folgen sehr bitter sein können. Ein geradezu groteskes Beispiel dieser Verdrängung liefert die IDM, die Südtiroler Marketingesellschaft. Jüngst präsentierte sie die neue Brandkampagne mit der Botschaft: „Das wirklich Gute entsteht aus besonderen Begegnungen“. Und das in einer Zeit, in der wieder angemahnt wird, Begegnungen, die nicht unbedingt notwendig sind, deutlich zu verringern.
Mein Vorschlag, etwas provokant formuliert: Wenn die IDM schon auf der Höhe der Zeit sein will, sollte sie freiwillig bestimmte Werbekampagnen eine Zeit lang einfrieren. Das damit eingesparte Geld könnte jenen Menschen als Prämie gespendet werden, die in den sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten, und noch im Frühjahr als Helden beklatscht wurden – und heute immer noch gleich wenig verdienen. Drei Monate keine Werbung mehr für Südtirol, mehr Geld für Krankenschwestern, Altenpfleger, Verkäufer und Kleinkindbetreuerinnen.
Das wäre wahrlich ein origineller, ein guter Südtiroler Weg.
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