Covid und Senioren: (ml) Die zweite Coronawelle hat Südtirols Seniorenwohnheime voll erfasst. Hatte man sich im August noch gut ...
Leitartikel
Das Wagnis
Aus ff 47 vom Donnerstag, den 19. November 2020
Die Landesregierung will mit der Operation Massentestung Entschlossenheit demonstrieren. Es ist eine Flucht nach vorne, die Züge einer Verzweiflungstat trägt.
Die Landesregierung hat die Kontrolle über das Virus verloren. Das ist unbestritten. Sie versucht, sie jetzt wiederzugewinnen, indem sie alle Südtirolerinnen und Südtiroler testen lassen will. 350.000 Menschen sollen sich am kommenden Wochenende einem Antigen-Schnelltest unterziehen. Das ist eine logistische Mammutaufgabe. Und es ist eine Flucht nach vorne, die die Züge einer Verzweiflungstat trägt.
Der Test, heißt es, sei freiwillig. Es heißt aber auch, dass Mitarbeiter, die sich verweigern, vom Dienst suspendiert werden können. Wer sich nicht testen lässt, wird also bestraft. Er darf nicht mehr arbeiten. Es sei einmal dahingestellt, ob solche Verordnungen vor einem Gericht standhalten würden. Brisanter ist für die Politik die Frage, wie eine solche Verordnung bei der Bevölkerung ankommt.
Nehmen wir einmal den fiktiven, aber durchaus realistischen Fall eines Arbeiters in einer Südtiroler Firma. Sein Chef sagt ihm, er müsse sich testen lassen, sonst müsse er ihn leider suspendieren. Der Arbeiter könnte ihn freilich fragen, warum er sich das von der Politik diktieren lässt? Er sei sonst als Unternehmer ja höchst empfindlich, wenn sich die Politik einmischt! Er beharre ja immer auf seiner Autonomie als Unternehmer!
Und an die Politik gerichtet, wird der Arbeiter fragen: Was habt ihr denn die vergangenen Monate eigentlich getan? Warum habt ihr Euch nicht besser auf die zweite Welle vorbereitet? Es stand doch überall zu lesen, dass sie kommen wird, wenn die dunkle, kalte Jahreszeit anbricht!
Diese Fragen können freundlich, nicht populistisch, aber doch entschieden gestellt werden. Der Arbeiter hat allen Grund und alles Recht dazu. – Ja, kann dieser Arbeiter sagen, ich sehe ja ein, dass die Tests notwendig sind, und ich bin auch bereit, harte Maßnahmen zu ertragen. Aber warum dieser Zwang? Wo leben wir eigentlich? In einer Diktatur?!
Nun mag man solche Argumentation als überzogen, vielleicht als überempfindlich abtun. Es sei, so könnte man sagen, nicht die Zeit für solche Fragen. Wir befinden uns in einer Notsituation. Da ist schnelles und entschiedenes Handeln gefragt.
Das ist alles richtig. Aber schauen wir uns doch einmal an, wie es mit dem schnellen und entschiedenen Handeln der Landesregierung aussieht. Jeden Tag sind in den vergangenen Wochen neue Maßnahmen erlassen worden, jeden Tag gab es neue Interpretationen einzelner Passagen der erlassenen Dekrete. So präzisierte der Landeshauptmann Anfang dieser Woche, dass der „Zwang-Passus“ nur für jene Arbeitsbereiche gelte, in denen es ein erhöhtes Infektionsrisiko gebe, also Kundenkontakt oder Kontakt mit anderen Angestellten.
Dann sind da die Zweifel in Bezug auf die Massentestung. Antigen-Schnelltests stellen immer nur eine Momentaufnahme dar. Wer heute negativ getestet wird und sich in Sicherheit wähnt, kann schon morgen ansteckend sein. Es dauert einige Tage, bis nach einer Infektion genug Viren für einen positiven Befund vorhanden sind. Wie können nach dem Massentest-Wochenende positiv, jedoch asymptomatisch Getestete krankgeschrieben werden. Vieles, sehr vieles, ist hier nicht zu Ende gedacht.
Und damit sind wir bei dem entscheidenden Problem. Die Landesregierung will Entschlossenheit demonstrieren, löst damit aber Unsicherheit und oft auch Angst aus. Viele Menschen in diesem Land fürchten sich inzwischen mehr vor dem Kontrollverlust der Regierung als vor dem Virus selbst.
So weit hätte es nie kommen dürfen.
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