Ulrich Veith: Ich arbeite in Teilzeit als Geschäftsführer für die Stiftung Pro Kloster St. Johann in Müstair (Schweiz). Den Rest ...
Leitartikel
Südtirol hat geliefert
Aus ff 48 vom Donnerstag, den 26. November 2020
Der Massentest war erfolgreich, aber was folgt jetzt? Die Landesregierung muss jetzt den Erwartungen gerecht werden, die sie geweckt hat. Sonst wird der Unmut der Menschen zum Protest anschwellen.
Mein Test ging schnell, und das Ergebnis kam nach vier Stunden. Und es war nicht positiv, aber gut, also negativ. So wie ich haben es am vergangenen Freitag, Samstag und Sonntag 343.226 Südtirolerinnen und Südtiroler gehalten. Sie gingen hin und ließen sich von einer medizinischen Fachkraft ein Wattestäbchen tief in die Nase stecken.
Wir waren also brav, sehr brav. Konform – die Coronakrise erzeugt einen hohen Konformitätsdruck – in Österreich etwa disktuieren Medien und Politik die Maßnahmen knallhart. Die Südtirolerinnen und Südtiroler waren verantwortungsbewusst oder auch nur gehorsam oder nur ängstlich. Sie folgten den subtilen Drohbotschaften und den Appellen, die an Dinge rühren, die sich im Laufe der Zeit tief in unser Ich eingegraben haben: Zusammenhalten, es geht nicht anders, so wahr uns Gott helfe!
Die Menschen haben der Landesregierung geholfen. Jetzt muss sie den Menschen helfen. Denn das Versprechen war, man kann es auf der Corona-Website der Landesregierung nachlesen: „Jeder und jede Einzelne in Südtirol kann bei dieser Testoffensive dazu beitragen, persönliche Freiheit, Bildung und Arbeitsplätze wiederherzustellen, wo sie aktuell eingeschränkt sind.“
Vielleicht war der Massentest auch nur eine Verzweiflungstat, der letzte Ausweg in einer Situation, in der niemand ein Rezept gegen Corona hat außer Freiheitsbeschränkungen, in der die Infektionszahlen stiegen, der Druck auf die Krankenhäuser immer größer wurde. Südtirol war auf einmal nicht mehr der Musterschüler, der alles unter Kontrolle hat, der der römischen Zentrale eine lange Nase drehen und die Beschränkungen früher lockern kann. Jetzt, nachdem der Massentest ein Erfolg war, geraten wir schon wieder in Versuchung, uns als die Besten zu präsentieren.
Landeshauptmann Arno Kompatscher hat von einem „Befreiungsschlag“ gesprochen, als er die Massentests ankündigte – auch in der Krise kann er manchmal seinen Hang zu rhetorischen Höhenflügen nicht bremsen. Der Begriff weckt Erwartungen – wer will dann schon den nächsten Satz hören, der ihn eingrenzt, ihn von der epidemiologischen Situation abhängig macht. Er weckt Erwartungen auf baldige Lockerungen nach dem Massentest: Schulen offen, Geschäfte offen, Restaurants offen, Beginn der Skisaison, wenn auch unter strengen AHA-Auflagen – Abstand, Hygiene, Atemschutz.
Die Verbände, die ihre Leute zum Test bewogen, geschoben, gedrängt haben, veranstalten jetzt ein Wettrennen. Sie fordern von der Landesregierung den Obolus für ihren Einsatz, für den Schulterschluss mit der Politik. Sie haben die Massentests als ein Versprechen auf Normalität (mit Maske) betrachtet.
Deshalb ist die starke Teilnahme an den Massentests ein gefährlicher Erfolg (siehe Titelgeschichte in diesem Heft, ab Seite 14).
Mit diesem Erfolg muss die Landesregierung jetzt klug umgehen. In ihrer Brust sitzt eine Seele, die beschränken will, bis ein Impfstoff verfügbar ist, und eine Seele, die lockern will, weil sie irreparable Schäden an der Wirtschaft befürchtet. Es stimmt ja auch: Sollte es für den Handel und den Tourismus kein Weihnachten geben, wird es in einigen Betrieben bald dunkel und kalt sein. Doch die Politik darf sich nicht treiben lassen – so wie etwa im Sommer, als sich alle locker machten. Eine ehrliche Analyse der Vorgänge ist bisher ausgeblieben.
Es darf jetzt kein Leben geben, als wäre das Virus verschwunden, keine Wintersaison wie in den vergangenen Jahren, keinen Tourismus wie im Sommer. Die Regierung hat jetzt eine schwere Aufgabe vor sich: Sie muss jetzt die Erwartungen einlösen und auf die Bremse drücken. Löst sie Erwartungen nicht ein, muss sie mit einem Anschwellen des Protests rechnen.
Wenn das gelingt, können wir sagen, wir haben es gut gemacht, ohne dabei gleich wieder die Größten und Besten sein zu wollen, wie im Frühjahr mit dem Südtiroler Sonderweg, der im Herbst kläglich gescheitert ist.
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