Leitartikel

Der Journalist als Ermittler

Aus ff 04 vom Donnerstag, den 28. Januar 2021

Zitat
© FF-Media
 

Der Fall Neumair wirft viele Fragen auf. Wie soll man darüber berichten, was schreiben? Gut täte eine Berichterstattung, die sich zurückhält.

Es gilt die Unschuldsvermutung. Dieser Satz ist manchmal ein dünnes Mäntelchen, hinter dem das Gegenteil durchscheint: Wir wissen, wer es war, es redet ja die halbe Welt oder wenigstens eine ganze Nation darüber. Der Satz steht oft am Ende der Berichterstattung über einen Kriminalfall. Als Pflichtübung.

Doch eigentlich gilt der Satz, bis ein Täter gefunden ist, jemand ein Geständnis abgelegt, bis die Polizei belastbare Beweise beigebracht hat, ja bis vor Gericht ein Urteil fällt.

Er gilt auch im Fall des verschwundenen Ehepaars Laura Perselli und Peter Neumair. Der Fall füllt Seiten und Sendungen, lokal wie national. Im Visier der Ermittler steht ihr Sohn Benno Neumair. Die Hypothese im Ermittlungsbescheid: Mord. Es ist bisher eine Hypothese geblieben, aber medial wird der Sohn gejagt, als gäbe es keine Zweifel. Laura Perselli und Peter Neumair beziehungsweise ihre Körper blieben bis Dienstagabend (Redaktionsschluss dieser Ausgabe der ff) unauffindbar, Benno Neumair auf freiem Fuß.

Wir versuchen in der Titelgeschichte in diesem Heft, über den Fall zu berichten, ohne zu jagen. Wir haben uns gefragt, wie weit können wir gehen, nicht was dürfen wir, sondern was sollen wir schreiben, können wir Namen nennen oder nicht? Wir nennen den Namen von Benno Neumair, es nützte in diesem Fall wenig, scheinheilig zu tun. Der Name ist bekannt, Benno Neumair hat selbst den Weg in die Öffentlichkeit gesucht. Aber wie seine Verwandten oder seine Freundinnen heißen, ist nicht von öffentlichem Interesse,

Was ist das öffentliche Interesse in diesem Fall? Das Leben des jungen Mannes, die Familienverhältnisse, die Konflikte mit den Eltern, sein muskulöser Körper? Oder der Fall an sich, hinter dem sich vielleicht ein persönliches und familiäres Drama versteckt.

Die Berichterstattung bewegt sich im Fall Neumair/Perselli an einer Grenze: Jede Kleinigkeit wird gedreht und gewendet und miteinander verknüpft, Fakten gibt es wenige. Die Journalisten werden zu Ermittlern, als wäre es ein TV-Krimi, in dem man versucht, schon am Anfang die Schuldigen zu erraten. Im wirklichen Leben geht es um wirkliche Menschen, die eine Würde haben, egal, was sie getan haben.

Eine Berichterstattung, die nicht so selbst-gewiss ist, sich zurückhält, mehr Zweifel als Gewissheiten hat, täte gut. Darstellen, was man weiß und was nicht. Sagen, was ist. Es gibt ein paar Blutspuren, eine Lücke im Zeitablauf, eine Freundin, die die Kleider von Benno Neumair gewaschen hat, ein Handy, in dem sich vielleicht Hinweise finden.

Aber es gibt (noch) keine Beweise (oder wir kennen sie nicht), keinen Richter, der einen Haftbefehl ausgestellt hätte. Die Ermittler üben einen großen Druck aus, ebenso die Medien.

Es ist nicht illegal, wie die Medien berichten, (das Ermittlungsgeheimnis streitet sich mit dem Recht auf freie Berichterstattung), aber ist es deswegen auch statthaft? In Deutschland wäre es undenkbar, dass Staatsanwälte oder Ermittler mit den Medien reden. Im Gespräch (offiziell oder inoffiziell) hat natürlich jeder ein Interesse daran, seine Wahrheit darzustellen – die Staatsanwälte wie die Anwälte wie die Beteiligten. Wer über den Fall schreibt, muss das in Rechnung stellen.

Es würde helfen, die Gesetze so anzuwenden, dass nicht jedes Detail der Ermittlungen in die Redaktionsstuben durchdringt, dass nicht Protokolle von Verhören oder Anhörungen am nächsten Tag detailliert in der Zeitung stehen. Vor allem wenn das Verfahren noch gar nicht eröffnet, der Ausgang der Ermittlungen offen ist, es nur ein paar Verdachtsmomente oder ein paar Ungereimtheiten gibt. Selbst wenn die Beweislage dichter wäre, gälte es, die Rollen zu wahren: da der Berichterstatter mit seinen Mitteln und einem kühlen Verstand, der nicht etwas suggeriert, dort die Staatsanwälte und die Polizei oder die Carabinieri, die mit allem arbeiten, was sie haben. Manchmal auch mit den Medien, an die sie Dinge durchsickern lassen.

Was immer Benno Neumair getan hat: Es gilt die Unschuldsvermutung, bis ein Gericht ein Urteil gesprochen hat.

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