Leitartikel

Gemeinsam Berge versetzen

Aus ff 28 vom Donnerstag, den 15. Juli 2021

Leitartikel 28/21
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Italien ist eine Republik, die auf Fußball gegründet ist. Daher sollte der Europameistertitel dem Land nun Flügel verleihen. Die Voraussetzungen dafür sind gut.

Italien, heißt es in der Verfassung, ist eine Republik, die auf Arbeit gegründet ist. In Wahrheit ist sie auf Fußball gegründet.“

Das schöne Zitat stammt vom Bozner Sport-reporter Pietro Nicolodi aus einem Interview mit diesem Magazin kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft. Nun ist das Turnier Geschichte und Italien Europameister. Den Titel zu holen, hat den Azzurri kaum jemand zugetraut, auch nicht Nicolodi. Er meinte, Italien habe zwar in der Qualifikation viele gute Ergebnisse erzielt, aber niemand wisse, was die Mannschaft imstande ist, gegen wirklich gute Gegner zu leisten.

Jetzt wissen wir, was das Team zu leisten imstande war: immens viel. Der Titel zeigt, dass es möglich ist, innerhalb weniger Jahre von ganz unten – verpasste Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Russland – nach ganz oben – Europameister – zu kommen. Er zeigt, dass man mit durchschnittlich talentierten Fußballern das schier Unmögliche schaffen kann, wenn man einen klaren Plan hat und dafür rennt bis zum Umfallen. Und er zeigt, dass das Kollektiv wichtiger ist als einzelne Akteure, mögen sie auch noch so stark sein.

Das gilt gleichermaßen für Politik und Wirtschaft. Wenn es stimmt, was Sportreporter Nicolodi sagt, dann hat Italien nun die allerbesten Chancen, von ganz unten wieder nach ganz oben zu kommen. Die Republik, die auf Fußball gegründet ist, ist nun wieder wer in Europa und in der Welt.

„Wir sind wieder wer“, diesen Satz hörte man auch im Deutschland der Fünfzigerjahre. 1954 wurde man völlig überraschend Weltmeister, Deutschland besiegte die favorisierten Ungarn mit 3:2. Dieses „Wunder von Bern“ markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Man konnte endlich wieder stolz auf das Land sein, nach den dunklen Jahren von Nationalsozialismus, Krieg und Zerstörung.

Im Land machte sich so etwas wie Aufbruchstimmung breit. Die Menschen merkten: Mit Fleiß, Disziplin und Teamgeist lassen sich Berge versetzen. Das passierte tatsächlich. Das deutsche Wirtschaftswunder zog seine Energie auch aus so etwas Banalem wie einem Weltmeistertitel im Fußball.

Die Pandemie hat Italien arg durchgebeutelt, mehr als viele andere Länder. Dabei waren die Probleme des Landes bereits vor Corona kaum zu übersehen. Die Politik ist chronisch zerstritten, die Justiz lahm, die Bürokratie überbordend und die Staatsschulden sind kaum noch zu schultern. All diese Dinge haben sich mit Corona eher noch verschärft.

Und doch ist in den vergangenen Monaten, seit dem Regierungsantritt von Mario Draghi, so etwas wie Zuversicht in die Gesichter der Menschen zurückgekehrt. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank macht seine Sache gut: Er regiert mit ruhiger Hand, suggeriert, dass er alles im Griff habe. Passo dopo passo, so hat man den Eindruck, geht es wieder aufwärts.

Italien kann die Aufbruchstimmung, die so ein EM-Titel bringt, gut gebrauchen. Seht her, wir können das, wir haben die Kraft und das Können, uns aus jeder noch so ausweglosen Lage herauszukämpfen – wir sind stärker als je zuvor. Die Tageszeitung La Repubblica brachte es auf den Punkt: „Dieser Sieg ist die Erlösung nach der Müdigkeit und Angst von zwei schrecklichen Jahren.“

Italien muss sich diese Erlösung zunutze machen. Jetzt geht’s los, am Montag dieser Woche war Tag 1 des neuen Italien. Die Voraussetzungen, das schier Unmögliche zu schaffen, sind gegeben. Mit Mario Draghi ist ein „Trainer“ im Amt, der gewillt ist, dem Land ein neues Spielsystem beizubringen. Und am Geld sollte es auch nicht scheitern, schließlich sollen in den nächsten Monaten und Jahren Milliarden aus Brüssel nach Rom fließen.

Nun müssen nur noch die Spielerinnen und Spieler mitziehen – das sind wir alle zusammen. Die Europameister haben es vorgemacht: Mit Fleiß, Disziplin und Teamgeist lassen sich Berge versetzen.

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