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Leitartikel
Das Wir in der Krise
Aus ff 29 vom Donnerstag, den 22. Juli 2021
Anfangs sah es so aus, als ob das Virus dazu beitragen könnte, den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. Solidarität durchzuhalten, ist aber gar nicht so einfach.
Durch Südtirol zieht sich zurzeit ein tiefer emotionaler Graben. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die auf die mahnende Rhetorik der Regierenden und die Analysen der Experten vertrauen und sich davon leiten lassen. Auf der anderen Seite jene, die von den Dauerermahnungen ermüdet sind und alles für übertrieben halten. Es gibt die Warner und die Hysteriker, die Zweifler und die Ignoranten.
Dabei, so möchte man meinen, sitzen wir in dieser Krise alle im selben Boot: Wir gegen Corona. Rund 7,8 Milliarden Menschen gegen ein Virus. Anfänglich sah es tatsächlich danach aus, als ob das Virus als gemeinsamer „Feind“ von außen dazu beitragen könnte, den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. Diese Pandemie – sie hat uns eigentlich gelehrt, dass wir alle miteinander zusammenhängen.
Aber je länger diese Krise nun dauert, um so klarer wird auch: Es ist nicht so einfach, die Solidarität durchzuhalten. Corona ist wie ein Riss, der durch unser aller Leben geht. Ganze Freundeskreise und Familien sind geteilt in Befürworter der Regierungspolitik und Impfstrategie und in ihre Kritiker und Gegner.
Wir sortieren Wissenschaftler und Politiker, aber auch Freundin oder Cousin ins eine oder andere Lager. Impfen – Masken – Abstandhalten: Bist du dafür oder dagegen? Impfung für Kinder? In die Gaststätte und ins Theater nur mit grünem Pass? Ja oder nein? Entscheide dich! Stempel drauf, Schublade zu.
In jedem Lager zählt nur die jeweils eigene Wahrheit. Jeder fühlt sich im Recht. Jeder nimmt Erkenntnisse aus der Wissenschaft nur dann wahr, wenn sie zur eigenen Weltanschauung passen. Jeder macht jedem Vorwürfe.
Hinter all dem steckt Unsicherheit – und Angst. Angst vor den vielen Veränderungen, Angst vor der Gefahr des Virus, Angst vielleicht auch vor der Impfung. Gleichzeitig steckt die Sehnsucht nach Normalität dahinter – was immer das auch sei. Trotzdem kann es nicht sein, dass es mittlerweile mehr Vorwürfe und Anschuldigungen gibt als Zusammenhalt und Solidarität. Das sollte die Politik jetzt nicht weiter verstärken – etwa indem sie den Impfpass zu einer Art Zugangsberechtigung für Grundrechte macht. Das ist problematisch. Freiheiten sollen allen zugänglich sein.
Es ist gut, wenn sich möglichst viele Menschen impfen lassen. Aber es kann nicht sein, dass man sich seine Grundrechte nach eineinhalb Jahren Pandemie gewissermaßen verdienen muss. Was beispielsweise ist mit jenen, die sich nicht impfen können, weil sie krank sind? Oder weil sie schwanger sind? Man muss auch die Verhältnismäßigkeiten betrachten.
Diese Krise fordert uns heraus, über unsere Beziehung zueinander und zur Natur neu nachzudenken. Deshalb brauchen wir jetzt eine Zeit des gründlichen Nachdenkens und eine Zeit der Aufarbeitung. Wir brauchen einen Austausch mit gegenseitigem Respekt und der Lust, gemeinsam nach gerechten Lösungen zu suchen.
Unsere Gesellschaft ist gespalten. Eine respektvolle Diskussion ist daher um so wichtiger. Eine Diskussion, in der wir immer die Möglichkeit in Betracht ziehen sollten, dass auch der Andersdenkende recht haben könnte.
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