Die Künstlerin wäre gerne für einen Tag eine Apnoetaucherin und mag den Geruch von Wald im Sommer.
Leitartikel
Merkel-Land ist abgebrannt
Aus ff 39 vom Donnerstag, den 30. September 2021
Deutschland hat sich in diesem Herbst 2021 für „die Wende“ entschieden und gleichzeitig dagegen. Die einst mächtigste Wirtschaftsnation der Welt hat mehr Baustellen offen, als ihr lieb sein kann.
Es gibt die Außensicht. Von außen galt Deutschland als Maß aller Dinge. Draußen, hieß es, sei alles besser, die Wirtschaft sowieso, die Institutionen, die Sanität und und und. Und dann hatte Deutschland eine Angela Merkel: kompetent, bescheiden, besonnen, klug. Kurzum: the best.
Und dann gibt es die Innensicht: Blätterte man in den vergangenen Wochen in den deutschen Zeitungen, musste man den Eindruck gewinnen, dass Merkel alles falsch gemacht hat, und dass die Deutschen froh sein können, diese Langweilerin, die alles verbockt und versäumt hat, was man verbocken und versäumen kann, endlich los zu sein. Deutschland, sagt die Innensicht, braucht „die Wende“.
Die Wahl am Sonntag hat allerdings gezeigt, dass sich die Deutschen doch nicht so sicher sind, welche Wende sie wollen, ja nicht mal, ob sie überhaupt eine solche wollen. Das Ergebnis dieser Bundestagswahl zeigt: Es gibt keine Gewinner, es gibt nur Verlierer.
Olaf Scholz schaffte es auf Platz eins, aber erstens ist sein Vorsprung hauchdünn, zweitens weiß er nur zu gut, dass nicht mal seine eigene Partei, die zerstrittene wie führungslose SPD, voll hinter ihm steht. Annalena Baerbock? Sie schaffte es auf Platz drei, aber für eine, die angetreten ist, um die Grünen zur Kanzlerinnenschaft zu führen, ist der 3. Platz eine Blamage. Vor allem deshalb, weil die Stimmung für die Grünen so gut war wie noch nie. Stattdessen erreichte sie trotz des medialen Klimarettungs-Hype im Rücken nur schlappe
15 Prozent.
Armin Laschet ist der Verlierer schlechthin, klar. Aber jetzt auf ihn einzudreschen, wäre ein zu leichtes Spiel – und verstellt den Blick auf die eigentlichen Ursachen seiner Niederlage.
Fakt ist, dass SPD und CDU/CSU, also die roten und schwarzen Volksparteien, die Deutschland seit Kriegsende regieren, in Summe nur mehr von der Hälfte der Bevölkerung gewählt werden. Eine Große Koalition – theoretisch möglich – müsste sich im Bundestag mit einer hauchdünnen Mehrheit über Wasser halten.
Der einzig mögliche Schluss aus dieser mathematischen Feststellung: Die drei großen Volksparteien haben einen denkbar schlechten Job gemacht und wurden von den Wählern abgestraft (übrigens: Bei 76,6 Prozent Wahlbeteiligung gibt es keine Ausreden).
Kurzum: Die innenpolitische Bilanz von Angela Merkel ist desaströs. Das von außen bewunderte Deutschland hat intern mehr Baustellen, als die Peinlichkeiten rund um den Berliner Flughafen vermuten ließen. Noch bis vor Kurzem nannte man sich mächtigste Wirtschaftsnation (und verhielt sich auch entsprechend), jetzt sehen die Deutschen vor lauter Problemen – je nach politischer Couleur: Ausländer, Klima, Wohnungsnot, Infrastrukturen, Bürokratie – den sprichwörtlichen Wald nicht mehr. Von wegen „Wir schaffen das“, wie Merkel 2015 tapfer verkündet hat. Die Deutschen scheinen ein mulmiges Gefühl zu haben, das ihnen sagt: Wir schaffen das nicht.
Und deswegen wählen sie „eine Wende“, die keine ist. Egal, wer jetzt Kanzler wird, am Ende wird ein Kompromiss stehen müssen: ein bisschen mehr grün, ein bisschen mehr Wirtschaft, ein bisschen mehr Dallidalli.
Beim genauen Hinsehen stellt man nämlich fest: Die Volksparteien haben verloren, ja, aber insgesamt hat die Mitte gewonnen (zu der auch der Großteil der Grünen zu zählen ist). Also irgendwie lag die gute Angela doch nicht so falsch.
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