Jenseits des Brenners
Leitartikel
Die Kunst der Beschränkung
Aus ff 41 vom Donnerstag, den 14. Oktober 2021
Nachhaltigkeit ist ein Begriff, den Politik und Wirtschaft bedenkenlos gebrauchen. Aber handeln sie auch danach? Bei ein paar Großprojekten kann die Landesregierung jetzt beweisen, dass sie es ernst meint.
Ist es Ketzerei zu sagen, dass wir eigentlich gar kein größeres Museum für Archäologie brauchen, in dem viel mehr Menschen vor dem Ötzi vorbeiflanieren können als jetzt? Dass das Museum zwar Platz benötigt, um neben dem Mann aus dem Eis auch die lokale Ur- und Frühgeschichte zu zeigen, aber nicht 500.000 oder 700.000 Besucher, wenn René Benko sich den Ötzi kauft und auf den Virgl oberhalb von Bozen verlegt?
700.000 statt 300.000 Gäste im Jahr wie im Moment, das sind 400.000 Menschen in der Stadt mehr. Viele davon werden mit dem Auto kommen und die Stadt noch mehr belasten als jetzt schon. Wollen wir das? Es ginge vielleicht, wenn der öffentliche Personennahverkehr massiv ausgebaut würde. Aber so wie es aussieht, sind weder die Landes- noch die Stadtregierung imstande, den privaten Verkehr zu reduzieren. Oder gar die Nutzung des heiligen eigenen Kraftwagens zu unterbinden. Die Bozner Stadtregierung hat sich bei der Tram so ungeschickt angestellt, dass die bei einer Volksabstimmung versenkt wurde; der Südtiroler Landtag hat kürzlich die Idee einer S-Bahn von Kaltern nach Bozen abgelehnt.
Als über einen neuen Standort für den Ötzi diskutiert wurde, ging es immer nur darum, wo das neue Museum zu liegen kommt. Niemand hat sich getraut, laut und deutlich zu fragen, ob Bozen noch mehr Gäste ertragen kann und will. Denn dann müsste man bestimmten Kategorien sagen: Jetzt ist es genug! In der Pandemie war Südtirol ein trauriges, aber auch ein schönes Land: Es gab zum Beispiel keinen Weihnachtsmarkt, keine Staus, keine Kolonnen, keinen Andrang auf den Pässen. Nicht dass jemand das wollen wollte, aber ein bisschen weniger wäre mehr. Mehr Lebensqualität für die Menschen im Land, mehr Ruhe für die Natur, mehr Gelassenheit.
Die Kunst der Beschränkung, die man auch Verzicht nennen kann, ist keine Tugend, schon gar nicht in der Wirtschaft und in der Politik. Dabei geht es gar nicht darum, gleich den Planeten zu retten, sondern wenigstens die Schönheit Südtirols zu bewahren. Dann haben wir schon viel getan. Aber dazu müssten wir Grenzen setzen. Davor drückt die Politik sich herum. Den Ötzi zu sehen ist verzichtbar, nicht lebensnotwendig, nicht entscheidend für ein gutes Leben.
Das Projekt, das René Benko und seine lokalen Helfer für den Virgl vorgesehen haben, ist gigantomanisch. Es passt eigentlich nicht in eine Zeit, die täglich die Nachhaltigkeit vor sich her schiebt. Wird die Landesregierung das Projekt genehmigen oder ein Zeichen setzen? Es ginge auf dem Virgl jedenfalls viel sanfter, wenn daraus nicht unbedingt ein großes Geschäft werden müsste.
Die Athesia hat die Geschäfte Benkos unten in der Stadt, beim Verbau des alten Busbahnhofs (Einkaufszentrum, Wohnungen ...) zu behindern versucht. Dabei will man anderswo ähnlich gewaltig bauen. Das Projekt für ein Hoteldorf im Schnalstal, über das wir in der Titelgeschichte in dieser Ausgabe schreiben, liegt auf dem Tisch der Landesregierung. Doch ähnlich wie beim Archäologie-museum zögert sie mit einer Entscheidung – und hier wie dort sind die Zugkräfte wohl ähnlich stark.
Der Athesia gehört im Schnalstal schon die Seilbahn, das Hoteldorf ist auf 600 Betten ausgelegt. So viel hat kaum ein anderer Hotelbetrieb in Südtirol.
Auch hier ginge es wohl kleiner und sanfter. Nicht alles muss erschlossen werden, nicht überall die Natur bis an die Grenze des Belastbaren ausgebeutet werden. Ein Hoteldorf mit 600 Betten ist nicht nachhaltig.
Solche Projekte, und ähnliche wie die Seilbahn von Tiers auf die Frommeralm oder der pompöse Neubau der Kölner Hütte, müssten eigentlich, wenn die Landesregierung ihr eigenes Wort ernst nimmt, der Vergangenheit angehören.
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