Leitartikel

Jeder kennt das Problem, keiner tut etwas

Aus ff 44 vom Donnerstag, den 04. November 2021

Leitartikel 44/21
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Wir sind mittendrin im Pflegenotstand. Und was geschieht? Nichts. Das ist ein Skandal.

Stellen Sie sich vor, jemand entdeckt eine Bombe, und keiner hat wirklich Lust, sie zu entschärfen. Genau das geschieht seit Jahren in der Pflege. Altenheime und Krankenhausabteilungen suchen seit Jahren händeringend nach Personal. Trotzdem wurde nicht konsequent genug gegengesteuert. Das Prinzip des Nichtstuns lautet: Irgendwie wird es schon gehen! Und bisher ist es ja auch immer gut gegangen.

Doch damit ist es vorbei. Die Pandemie macht es deutlich: Es geht nicht mehr so weiter. „Viele Pflegekräfte sind erschöpft“, sagte ein Primar Anfang dieses Jahres zu ff. „Wenn es so weitergeht, kündigen sie.“ Und dann? Niemand hat eine Antwort darauf.

Der Gesundesheitslandesrat sagt angesichts steigender Corona-Zahlen, im Stil eines Protokollschreibers, man könnte in einigen Wochen wieder gezwungen sein, in den Krankenhäusern auf Notbetrieb umzustellen. Da muss er, und alle anderen, die Verantwortung tragen, sich fragen: Was habt ihr eigentlich seit Beginn der Pandemie gemacht? Habt Ihr geschlafen?

Der Pflegenotstand ist kein Geheimwissen. Er ist für alle sichtbar. Notbetrieb herrscht in den Krankenhäusern nicht erst jetzt, sondern schon seit Beginn der Pandemie. Seit knapp zwei Jahren leiden die Pflegenden massiv unter den Arbeitsbedingungen und der Arbeitsbelastung, sie arbeiten schon lange bis zum Rand der Erschöpfung.

Schon vor Corona hatten viele Fachbereiche zu wenig Kapazitäten, um Operationen durchzuführen, zu wenige Betreuer für Patienten. Heute treffen die Patienten auf ein völlig ausgelaugtes Gesundheitssystem. Sie erleben, dass Leistungen nicht mehr so erbracht werden können, wie es medizinisch und menschlich angebracht wäre.

Seit bald zwei Jahren kämpfen wir gegen die Pandemie. Es sind auch zwei Jahre der verpassten Chancen. Denn eine grundlegende Debatte über eine Reform des Gesundheits- und Pflegebetriebes hat nicht stattgefunden. Stattdessen wird darüber diskutiert, was den Leuten erlaubt wird – oder eben nicht.

„Wir haben“, sagte der Gesundheitslandesrat jüngst der Dolomiten, „aufgrund der Suspendierungen von ungeimpftem Personal einfach mehrere 100 Mitarbeiter weniger und sind in den Spitälern dadurch nicht mehr so gut aufgestellt wie im Vorjahr.“

Es ist verständlich, dass Politiker und Verantwortliche des Sanitätsbetriebes auf die Impfung als Lösung aus der Krise setzen. Doch das ist ein Trugschluss. Die Krise des Gesundheitssystems ist älter als die Pandemie. Die Impfung wird sie deshalb nicht beenden können. Der Gesundheitslandesrat macht es sich zu einfach. Auch deshalb, weil völlig unbeachtet bleibt, dass die Impfpflicht im Gesundheitsbereich viele Beschäftigte verprellt hat. Wer sich nicht impfen lässt, muss weg – ja, und dann? Wer ersetzt die Fachkräfte, die nicht zur Impfung bereit sind und suspendiert werden? Darauf brauchen wir Antworten.

Machen wir uns nichts vor: Über Pflege haben wir nie viel geredet. Sie wurde einfach getan, Tag für Tag, 24 Stunden. Jetzt ist es höchste Zeit, zu handeln. Wer im Pflegeberuf arbeitet, muss mehr verdienen, bessere Arbeitsbedingungen und Fortbildungsmöglichkeiten bekommen, eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Dazu zählt die Wertschätzung für ihren Beruf. Das Image der Pflege zu forcieren. Das alles ist keine Hexerei, es ist machbar. Wer die tickende Zeitbombe immer noch nicht sehen will, sollte eines bedenken: Irgendwann wird auch er sehr wahrscheinlich eine anständige Pflege brauchen können.

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