Mit seinen handgemachten Figuren fährt Gernot Nagelschmied durchs ganze Land. Über das Leben eines Puppenspielers, das Basteln mit Styrodur und richtungweisende Riesennasen.
Leitartikel
Das geringere Übel
Aus ff 48 vom Donnerstag, den 02. Dezember 2021
Südtirol riskiert wieder dort zu landen, wo wir nie wieder hinwollten: Im Lockdown. Das müssen wir verhindern. Und das geht nur gemeinsam.
Eine Pandemie, hat der Schriftsteller Michel Houellebecq geschrieben, sei im Grunde ein Nichtereignis. Beängstigend und langweilig zugleich. Denn sie laufe stets nach demselben Muster ab. Seit Jahrhunderten seien die Mittel dagegen dieselben: Kranke isolieren, Abstand halten, Masken tragen.
Wenn das nicht gemacht oder nicht eingehalten wird, sterben viele Menschen. Das ist auch in der Corona-Pandemie so. Nur dass es diesmal gelungen ist, eine Impfung gegen das Virus zu entwickeln. Das ist eine großartige Leistung der Wissenschaft und der Pharmaindustrie. Die Impfung mag zwar nicht perfekt sein, aber sie hilft.
Das zeigen Studien, Erhebungen, Statistiken. Zum Beispiel jene Statistik, die die Anzahl der Corona-Toten in der EU mit den vollständig Geimpften über 18 Jahren vergleicht. Dort, wo es wenig Geimpfte gibt, wie in Bulgarien oder Rumänien, ist die Anzahl der Toten hoch. Dort, wo viele geimpft sind, wie in Irland oder Portugal, ist die Anzahl der Toten niedrig.
Das ist es auch, was mit den Impfungen immer in Aussicht gestellt worden ist: Die Anzahl der Menschen mit schweren Krankheitsverläufen werde sich spürbar verringern.
Allerdings wirkt die Impfung nur, wenn einheitlich und schnell gehandelt wird. Es geht darum, eine sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Von einer solchen spricht man, wenn etwa 70 bis 75 Prozent der Bevölkerung vor einer ansteckenden Krankheit geschützt sind. Das führt dazu, dass auch nicht geimpfte Menschen einen gewissen Schutz vor der Krankheit haben.
In Südtirol sind weniger als 70 Prozent der Menschen vollständig geimpft. Das reicht nicht für eine Herdenimmunität. Und es sieht nicht so aus, als ob eine solche schnell zu erreichen wäre. Also geht es dahin zurück, wo wir nie mehr hinwollten: in den Lockdown. Noch sind die Ausgangssperren lasch, doch wenn die Zahlen weiter so steigen, werden sie schnell schärfer werden.
Was tun? Es gibt mehrere Möglichkeiten:
1. Wir lassen die Dinge laufen und nehmen in Kauf, dass viele weitere Menschen sterben. Nicht nur wegen Corona, sondern auch weil sie wegen eines überlasteten Gesundheitssystems nicht mehr behandelt werden. Das betrifft dann etwa auch Unfallopfer oder Herzkranke.
2. Wir setzen auf Eigenverantwortung, halten Abstand und tragen Masken. Das hat schon bisher nicht funktioniert. Und wäre wohl nur durchsetzbar in einem autoritären Staat wie China.
3. Wir schlittern wieder in einen Lockdown, es gibt also Ausgangssperren. Das Horrorszenario: Schulen zu, Betriebe zu, Skigebiete zu …
4. Wir lassen uns alle impfen und setzen darauf, dass das Virus mithilfe einer Herdenimmunität zurückgedrängt werden kann. Allerdings scheinen dazu nicht genug Menschen bereit zu sein. Jedenfalls nicht freiwillig.
Zugegeben, die Auswahl ist nicht gerade prickelnd. Aber die meisten, jedenfalls die, die nicht gerade eingefleischte Impfgegner sind, werden sagen: Option 4 ist jene mit den geringsten Nebenwirkungen und gleichzeitig den besten Aussichten auf Erfolg – sich impfen lassen und dadurch zum Wohl von uns allen beitragen.
Solidarisch. Gemeinwohlorientiert. Ohne Angst. So durften wir es zu Beginn der Pandemie oft erleben. Da haben Menschen auf den Balkonen geklatscht für Ärzteschaft und Pflegekräfte, ein spürbarer Ruck ging durch die Gesellschaft.
Sind wir dazu auch jetzt wieder in der Lage? Das wäre zu wünschen. Sonst, warnt der Immunologe Bernd Gänsbacher, werde das Virus immer gefährlicher. Denn es lerne dazu, wisse besser auf die Immunantworten des menschlichen Körpers zu reagieren. Und könne so mit der Zeit auch die Impfstoffe nutzlos machen. Dabei geht es weder um Philosophien oder Ängste, noch um die Ausblendung der Realität. Der Punkt sei, sagte Gänsbacher auf Rai Südtirol: „Es gibt ein Problem, das die Gesellschaft bedroht. Und dieses Problem muss gelöst werden. Und da müssen alle mitziehen.“
Wenn sich daran freiwillig nicht genügend Menschen beteiligen, wird der Politik bald nichts mehr anderes übrig bleiben, als eine Impfpflicht für alle einzuführen. Das wird nicht allen gefallen. Aber es könnte sich als das geringste der Übel erweisen.
Weitere Artikel
-
Das Licht leuchte uns
Kunst – Gotthard Bonell
-
„Sortiermaschine“ Grenze
Jenseits des Brenners
Leserkommentare
Kommentieren
Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.